Der Derwisch und der Tod
gesammelt
zuhörte, angezogen vom Ernst meiner Stimme und einer heimlichen Bangigkeit,
die er ahnen konnte – vielleicht kam mir erst jetzt die Leere, die ich am
Morgen vor dem Amt des Muselims empfunden hatte, als ich ver blüfft anhören
mußte, wie mich die Sejmenen ganz ruhig belogen, voll zum Bewußtsein. Ich war
erniedrigt, hatte aber nicht die Kraft, das Kränkende recht wahrzunehmen. Ich
war entsetzt, da ich erkannte, daß ein Urteil gesprochen war, das meinen Bruder
und mich unwiderruflich verband. Ich mußte versuchen, mich selbst zu retten,
indem ich ihn rettete. Aber ich konnte den eisigen Hauch der Ode, der mich
anwehte, vor mir selbst nicht verbergen. Ich wußte, dies war nicht die einzige
Tür, an die ich klopfen mußte, das war nicht der einzige Mensch, der meine
Forderung anzuhören hatte, es gab noch mehr, bessere und stärkere als diesen
vom Wahnwitz der Macht besessenen Gewaltmenschen, und dennoch hielt ich
erstarrt inne, plötzlich kraft- und mutlos, wie jemand, der in der Nacht den
Weg verloren hat. Das war auch der Grund dafür, daß ich, als mich der Drang
überkam, mich jemandem anzuvertrauen und Unterstützung zu suchen – mich an
Hasan anzuschließen, ihn mit den Banden der Freundschaft, den Klammern der
Liebe an mich zu binden trachtete, überrascht von mir selbst und diesem neuen
Bedürfnis, das ebenso unvernünftig wie stark war. Es gelang mir, ich tat das
Beste, was ich tun konnte, geleitet von der unbewußten Findigkeit echter
Ohnmacht, von dem überquellenden Sehnen, einen großen Durst zu stillen, der
sicher von jeher vorhanden war, aber versteckt und unterdrückt. Noch viel
später erinnerte ich mich dieser Stunde und der mächtigen Rührung, die mich
überkam.
Auch in ihm weckte ich Unruhe. Die
weit geöffneten blauen Augen blickten auf mich, als lernten sie mich erst
kennen, als lösten sie mich heraus aus der Gesichtslosigkeit, als gäben sie
mir Antlitz und Züge. Sein Ausdruck wandelte sich, aus der gewohnten
spöttischen Fröhlichkeit wurde aufgeregte Gespanntheit, doch als er zu sprechen
begann, war er wieder ein ruhiger und beherrschter Mensch, der seine Gefühle in
der Gewalt hat, der über sie wacht, damit sie nicht allzu lebhaften Ausdruck
fänden, wie das bei Menschen geschieht, die eine Begeisterung auch leicht
vergessen. Seine Glut war dauerhafter, keine Flamme, in der heiße Worte verbrennen.
Auch diese Vorstellung von ihm war neu. Heute noch, eben noch hatte ich ihn für
oberflächlich und gedankenlos gehalten, obgleich ich im tiefsten Innern gewiß
schon anders gedacht hatte, denn warum wäre ich sonst gerade zu ihm gekommen,
da ich ein menschliches Wort brauchte. So verteidigte ihn nun meine neue Liebe,
meine Begeisterung, die mich an ihn band, weil ich mich vor der Einsamkeit
fürchtete. Übrigens, ganz gleich, mochte er oberflächlich sein, leichtfertig
sein, seinen nicht alltäglichen Geist vergeuden, wie er wollte, er war ein
guter Mensch und kannte das Geheimnis, ein Freund zu sein. Ich kannte es nicht
– er würde es mir enthüllen. Vielleicht war das ein Gebet, zu sprechen vor
einer großen Angst, ein Talisman gegen böse Mächte, eine Prophezeiung vor dem
Aufbruch zur Pilgerfahrt des Leidens.
Aber niemals wissen wir, was wir mit
einem Wort, das für uns eine ganz bestimmte Bedeutung hat und nur unseren
Bedürfnissen nachkommt, in einem anderen Menschen
hervorrufen. Ich hatte in ihm offenbar den wohlverborgenen Wunsch freigelegt,
sich in fremde Schicksale einzumischen. Er hatte gleichsam nur auf meinen
Freundschaftserguß gewartet, um mir seine Hand und seine Hilfe zu bieten. Worte
genügten ihm nicht.
„Das ist mir lieb, daß du Vertrauen
zu mir hast", sagte er eifrig. „Ich werde dir helfen, so gut ich nur
kann."
Alles an ihm belebte sich plötzlich,
bereitete sich auf etwas vor, auf eine Tat, eine Gefahr. Man mußte ihn
anhalten.
„Ich verlange keine Hilfe. Ich
meine, sie wird nicht gebraucht."
„Hilfe ist nie überflüssig, und
jetzt wird sie dir nötiger sein als je zuvor. Wir müssen ihn herausholen,
sobald wie möglich, und ihn von hier fortbringen."
Er stand auf, unruhig, über mich
hinwegstrebend, seine Augen blitzten in bösem Feuer. Was hatte ich in ihm
geweckt?
Weder dieses Angebot noch diese
Raschheit des Entschlusses hatte ich erwartet, bis zum Ende meines Lebens würde
ich die Menschen zu erkennen trachten und sie doch nie erkennen, immer würden
sie mich mit der Unerklärbarkeit ihrer Handlungen verwirren. Ich dachte
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