Der Derwisch und der Tod
diese Gründe und ließ sie darum im Dunkeln,
unerkannt, dennoch wissend, daß es sie gab. Siedend heiß überfiel mich der
Gedanke, peitschte mich, ich glaube, gerade so trifft den Menschen der Schlag,
wie ein greller Blitz, ließ sich wie dumpf grollender Donner vernehmen: Sie
umzingeln mich.
Weder damals noch viel später fiel
mir ein, daß doch der menschliche Gedanke eine unsichere Woge sei, aufgewühlt
oder geglättet vom launischen Wind der Angst oder des Wunsches.
Einzig dies wußte ich, wußte es von
neuem, denn ich hatte es vergessen: daß die Ahnung der erste Bote des Unglücks
sei.
Auch in diesem Augenblicke aber war
mir klar, daß ich nicht aufgeben durfte. Morgen, ganz in der Frühe, würde ich
den Wall gegen den reißenden Fluß, dessen Tosen ich schon hörte, festigen.
Ich ergebe
mich nicht.
Mögen mir
die Hände verdorren, mag mir der Mund verstummen, mag mir die Seele veröden,
wenn ich nicht das tue, was der Mensch tun muß. Und Gott mag entscheiden.
Am nächsten Morgen vollzog ich die heiligen Pflichten
vielleicht ein wenig lebhafter als sonst, brachte Leben in die vertrauten
Gesten und Worte, da ich mich der Unruhe des vergangenen Abends erinnerte, da
ich über die Bedeutung der Aufgabe nachdachte, die meiner harrte gleich einer
Entscheidungsschlacht, und da ich doch keinen Augenblick zweifelte, daß ich den
Weg gehen mußte. Im Kampfe kann man Wunden empfangen, kann man auch fallen, und
darum war das Gebet inniger als sonst, aber ein Zurück gab es nicht, so hätte
es des festen Vorsatzes und des Schwurs, den ich gestern abend vor mir selbst
geleistet hatte, um mein Zaudern zu überwinden, gar nicht bedurft. Es fiel mir
ein, in der Tat, alles war wie vor der Schlacht – damals. Gestern abend, gleich
nach meiner Rückkehr, hatte ich mich gebadet, ich hatte gemeint, das Wasser
würde mich beruhigen, auch heute morgen hatte ich mich gebadet. Mein Hemd war
noch sauber, dennoch nahm ich ein frisches, schneeweißes. So wie damals. Nur
daß ich damals gemeinsam mit anderen in jene Schlacht ging, in einer Reihe, die
fester war als Stein, den bloßen Säbel in der bloßen Hand, heiße Freude in den
Augen. Jetzt würde ich allein gehen, o liebe, ferne Zeit, im schwarzen, um die
Beine schlenkernden Gewand des Geistlichen, mit leeren, kraftlosen Händen, mit
Bangen in der Seele.
Aber ich würde gehen. Ich mußte.
Ich wollte bei Hasan einkehren. Ich
hatte nicht viel Zeit, die Ungeduld trieb mich, trotzdem wollte ich zu Hasan,
ich meinte, ich könne nicht auf den Weg gehen, ohne ihn gesehen zu haben, ich
hätte dann das Gefühl, etwas höchst Wichtiges versäumt zu haben. Dabei wußte
ich nicht, wozu ich das eigentlich brauchte – er konnte mir nicht helfen,
konnte mir keinen Rat geben. Vielleicht darum, weil er mir am nächsten stand,
obgleich auch er mir nicht nahestand. Es sah ein wenig nach Orakeln, nach
Abwehr bösen Zaubers aus – seine Heiterkeit konnte mir Glück bringen.
Er war nicht zu Hause. Lange schlug
ich mit dem Klopfer an die Tür, ich dachte erst, er schlafe noch, und als ich
es schon aufgeben wollte, wurde die Tür von jener kleinen Frau geöffnet, die
wieder ihr Gesicht verhüllte und die, seltsam verwirrt, ihr Haar zurechtstrich.
Sie erklärte mir, hastend und stolpernd im Sprechen, daß Hasan nicht zu Hause
sei, gestern abend sei er fortgegangen und noch nicht zurückgekehrt, ihr Mann
suche ihn, und jetzt warteten sie auf beide. Beide warteten sie auf die beiden,
eingeschlossen, aufgeregt, zufrieden mit der Not der anderen, die ihnen Glück
gebracht hatte.
Auch zu Hafiz Muhamed hatte ich
gesagt, wohin ich gehen wolle – um zu hören, was er dazu dachte. Meinen
Entschluß hätte ich nicht geändert, was er auch sagen mochte, aber ich
hatte gewünscht, daß er mich ermutige. Er verhielt sich aufmerksam, so als wäre
ich der Kranke, nicht er. Du mußt hin, sagte er. Schade, daß du es nicht früher
getan hast. Unsere Pflicht ist es, auch einem unbekannten Menschen zu helfen,
erst recht aber dem leiblichen Bruder. Und laß dich nicht beirren, es ist
bestimmt nichts Böses, was du tust. So hatte er gesprochen, aufrichtig und
erregt, doch er hatte mich nicht sonderlich ermutigt, wie ich das erwartet
hatte. Und er hatte gewußt, daß ich das erwartet hatte. Ein guter Mensch wird
immer so sprechen, und das ist dann nicht seine Meinung, sondern leeres Mitgefühl.
Hasan war nicht zu Hause. Nie ist
der zu finden, den man sucht.
Ich kam an einer Bäckerei vorüber,
sog den Duft der
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