Der Derwisch und der Tod
heißen Brote ein und erinnerte mich, daß ich fast einen ganzen
Tag nichts gegessen hatte. Gestern abend hatte der Nachtwächter von Broten
gesprochen. Auch ihn mußte ich finden, heute. Seltsam, warum hatte ich nicht
bemerkt, daß er mir etwas sagen wollte? Was nicht nur den Mann betraf, der mit
der Drohung auf mich wartete. Beinahe mit Gewalt hatte er mich festgehalten,
mich veranlassen wollen, ihn zu fragen. Ich aber war taub und blind gewesen.
Darauf zwang ich mich, an die Frau
des Kadis zu denken – ich würde wieder in dieses Haus voller Schweigen gehen –,
und an Hasan – was hatte er gestern abend getan, und wohin war er gegangen? –
und an meinen Vater – sobald sich dies alles entschieden hätte, würde ich ihm
Nachricht geben –, und an die vergangene Nacht, die lange und schlaflose, und
an eine Unzahl von Kleinigkeiten – keiner hatte die Rosen im Tekiehgarten
geschnitten, sie würden struppig durcheinanderwachsen – und an Mustafas Kinder
– immer öfter hockten sie vor der Tekieh, die Frau schickte sie fort, damit sie
ihr nicht im Wege seien, Mustafa aber trug ihnen brummig etwas zu essen hinaus,
alle Welt lachte über uns, man nannte sie schon die Derwisch-Kinder, und mir
fehlte der Mut,es zu verbieten – und noch an Gott weiß was sonst dachte ich,
nur um nicht an das Gespräch mit dem Mufti [22] zu denken. Nicht deshalb war es so,
weil ich etwa nicht gewußt hätte, was ich sagen solle, sondern weil danach
nichts mehr kam. Vor dem Urteilsspruch gab es Hoffnung für alles, dann aber gab
es nur den Spruch. Würde er gut ausfallen, so brauchte es keiner Hoffnung,
würde er schlecht ausfallen, so lohnte auch das Nachdenken nicht.
Das Haus des Muftis stand hoch am
Berge, ganz für sich, in einem Garten, den eine hohe Mauer umgab. Niemals war
ich hineingegangen. Anscheinend würde ich es auch jetzt nicht tun.
Der Wächter vor der Tür erklärte
mir, der Mufti sei nicht zu Hause. Er sei außerhalb der Stadt.
„Wann wird er zurückkommen?"
„Ich weiß nicht."
„Wohin ist er gegangen?"
„Ich
weiß nicht."
„Wer weiß es?"
„Ich weiß nicht."
Also, die ganze Angst war umsonst
gewesen. Die Hoffnung bestand weiter, aber sie wurde schwächer. Es konnte sein,
daß ich bald keine mehr brauchte.
Ich wußte nicht, was ich tun solle.
Ginge ich fort, würde ich schwerlich zum Mufti gelangen, und wenn ich ihn
erreichte, wäre es zu spät. Wohin war er gegangen? In welches seiner Häuser?
Auf welche seiner Besitzungen? Nach Ugosko? Uglješići? Gor?
Tihovići? In die Ebene? An den See? An den Fluß? Oft geschah es, daß er
flüchtete, und alles konnte Ursache sein: die Hitze, die Kälte, der Nebel, die
Feuchte, die Menschen.
Wo mochte er jetzt sein? Nur hier
konnte man es mir sagen.
„Ich weiß nicht, was ich tun
soll", beklagte ich mich gegenüber dem Wächter. „Der Mufti hat mich
herbestellt, wir haben ein wichtiges Gespräch zu führen. Ich muß ihn
finden."
Der Wächter zuckte mit den Schultern
und wiederholte dabei jenes einzige Wort, das er wußte. Ich aber konnte mich
nicht zum Gehen entschließen.
„Jemand im Haus muß es doch
wissen."
Da öffnete sich die Tür, und ein
magerer Mann – gewiß ein ehemaliger Soldat, nach den Narben im Gesicht und den
Kleidungsstücken zu schließen, die er noch abtrug, weil es ihm sicher leid
tat, sie wegzuwerfen – blickte streng auf mich. Solange ich mich nicht
gerechtfertigt hatte, war ich für ihn ein Schuldiger.
Ich sagte ihm dasselbe wie dem
Wächter.
Aus seinem mißtrauischen
Gesichtsausdruck schloß ich, daß er an der Wahrheit zweifelte. Es kränkte mich,
dieses Mißtrauen, aber noch stärker war der Wunsch, daß er mir wirklich nicht
glaube. Ich hatte mich in Lügen verstrickt und war nun gezwungen, so
vorzugehen, wenn es jedoch der Mufti erführe – und er würde es erfahren –,
müßte ich um Verzeihung bitten und nicht um Gerechtigkeit.
„Na, macht nichts", sagte ich,
schon auf dem Rückzug.
In diesem Augenblick bemerkte ich,
wie sich das strenge Soldatengesicht veränderte, besänftigte, zu einem Lächeln
verfloß. Warum?
Da erkannte auch ich ihn. Wir hatten
zusammen im Krieg gekämpft, nur war er schon vor meiner Zeit und noch nach
meiner Zeit Soldat gewesen. Wir freuten uns beide.
„Du hast dich verändert", sagte
er fröhlich, „wie soll man dich in dem Derwischgewand erkennen! Aber siehst du,
ich hab dich doch erkannt!"
„Aber du bist noch derselbe. Ein
bißchen älter, ein bißchen magerer, und trotzdem
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