Der Derwisch und der Tod
ein
Held!"
Und sogleich bereute ich es. Warum
rufst du ihm die Vergangenheit ins Leben zurück? Warum weckst du ihn aus dem
Dahindämmern? Er hat nicht vergessen, es ist unmöglich, aber er hat sich
beruhigt, abgefunden, hat es vielleicht verschmerzt; du solltest ihm nicht die
Wunden aufreißen, die aufgehört haben zu bluten.
O Unglück, sagte ich auch über mich.
Jetzt war es zu spät, das Falsche
war gesprochen.
Er sah mich entgeistert an, gewiß
hatte seit vielen Jahren niemand von seiner Vergangenheit geredet, oder er
selbst hatte es getan, damit er die, mit denen er sprach, darauf bringe, sich
seiner als eines ganz anderen zu erinnern – war denn auch die Erinnerung tot,
lebte er denn nicht fort in irgendeines Menschen Gedächtnis? Vielleicht aber
hatte auch er nicht mehr davon gesprochen – warum auch? Oder er sprach um so
mehr, um so hoffnungsloser, je mehr die Vergangenheit in die Ferne rückte, und
er hoffte nicht mehr, daß sich jemand erinnern würde. Vielleicht war in ihm
alles lebendig, in den anderen tot.
Und siehe, auf einmal redete ein
Derwisch von ihm als dem, der er einst gewesen war. Und wie er das tat!
Vielleicht hatte Kara-Zaim davon geträumt, daß es einer gerade mit diesen
meinen Worten sage: Großer Gott, was für ein Held bist du gewesen!
Sie trafen ihn gewiß ins Herz, schossen ihm durchs Blut wie ein heißer Wind,
hallten betäubend in seinen Ohren. Oder er dachte, es seien Worte aus seinen
Träumen, keiner habe sie gesprochen, gehört habe sie nur sein Wunsch. Aber
nein! Sie waren laut gesprochen, von diesem alten Kerl, dem Derwisch. Der
hatte sich erinnert und gesprochen.
Einen Augenblick lang sah er mich
geistesabwesend an, wie ein Fallsüchtiger, ich wußte nicht, würde er vor Glück
aufspringen und dann kraftlos auf die Steinplatten niederstürzen oder würde er
mich umarmen, um sich festzuhalten, da ihm die Knie zitterten, oder lachen oder
weinen und sterben, aber ich kannte den alten Recken Kara-Zaim nicht gut genug.
Als Helden hatte ich ihn in Erinnerung, warum sollte er das jetzt nicht mehr
sein? Nur seine bebende Stimme verriet ihn – und ein leises, von der Aufregung
hervorgerufenes Glucksen in den durchbohrten Lungen:
„Du erinnerst dich? Wirklich?"
„Ja, ich erinnere mich. Immer, wenn
ich an die alte Zeit denke, sehe ich dich."
„Wie siehst du mich?"
Es war ein stilles Flüstern, es
lockte mich aus dem Dunkel der Zeit.
„In hellem Licht, Kara-Zaim. Auf
weitem Feld. Allein. Du schreitest ruhig vorwärts, blickst dich nicht um,
wartest auf keinen. Ganz in Weiß. Die Arme entblößt bis zu den Ellbogen. In der
Hand den Säbel, und das Licht kommt vielleicht von der Säbelschneide, die in
der Sonne blitzt. Du gleichst einem Wind, den keiner aufhalten kann. Einem
Sonnenstrahl gleichst du, der überall durchdringen wird. Alle anderen sind
zurückgeblieben, halten Ausschau, sind verschwunden. Einzig du."
„So bin ich nicht
vorwärtsgegangen."
„Es ist meine Erinnerung.
Ausgelöscht ist vielleicht manches Gewesene, nur das ist geblieben."
„Schön ist es. Schöner als in
Wirklichkeit. Oder auch nicht. In hellem Licht, sagst du. Auf weitem Feld."
Wie trunken flüsterte er, und dann
sah er mich an, suchte sein Bild in meinen Worten, seinen fernen Ruhm auf
meinen Lippen.
Er stellte sich wohl vor, ich sänge
ihm ein Lied von seiner Tapferkeit, doch ich bedauerte ihn.
Und ich konnte nicht weiter.
„Es ist mir lieb, daß ich dich
gesehen habe", sagte ich, während ich mich zum Gehen wandte.
„Warte."
Schwer fiel es ihm, mich
fortzulassen, ich war jener Langersehnte, Wissende, ich war Zeuge dafür, daß
Erinnerungen nicht sterben, ich war die Bestätigung, daß nicht alles in ihm nur
Schatten sei, meine Erinnerung war Entgelt für langes Vergessen, Lohn für das
Warten.
Dieselben Worte, entgegengesetzte
Gefühle. Was ich fühlte und was er fühlte, hatte die gleiche Wurzel, doch für
ihn bedeutete es Glück, für mich Kummer. Noch älter. Es lohnte nicht, sich viel
Gedanken darum zu machen.
„Ich muß gehen."
„Warte. Der Mufti ist hier, im
Hause. Geh hinein, wenn dir's wichtig ist. Sag, ich wär's, der dich
hineingelassen hat. Oder sag's nicht. Sag, er hätte dich herbestellt."
„Er hat mich nicht herbestellt. Ich
bin von selbst gekommen."
„Ich weiß. Sag nur so: Du hast mich
kommen heißen. Er hat soviel auf dem Halse, daß er sich nicht erinnern wird.
Und wenn er sich nach mir erkundigt, und wenn du meinst, es wäre gut, so sag,
was du weißt.
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