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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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wollte etwas anderes ... Wovon habe ich
gesprochen?"
    „Vom Stambuler Mulla", bemerkte
Malik.
    „Nein. Von der Gerechtigkeit. Die
Gerechtigkeit – so sagte er einmal –, wir glauben zu wissen, was das sei. Dabei
gibt es nichts Unbestimmteres. Sie kann Gesetz, Rache, Unwissenheit, Unrecht
sein. Alles hängt vom Standpunkt ab. Ich antwortete ihm ..."
    Er ging weiter auf und ab, schweigend,
mit einemmal schlaff, es kam mir plötzlich vor, als steckte in ihm ein Uhrwerk,
das ihn in Bewegung setzt, das ihm Wort und Körper belebt, und wenn das Uhrwerk
abgelaufen ist, erstarrt auch er, packt ihn die Leere.
    Er sagte mir nicht, ich solle mich setzen,
es interessierte ihn nicht, was ich vorbringen wollte, es stand mir frei, zu
sprechen oder zu gehen. So hätte denn auch ich ein Malik werden können, ein
zweiter Schatten des Muftis, ebenso entbehrlich wie der erste. Ich entschloß
mich zu sprechen.
    „Ich bin gekommen, um etwas zu
bitten."
    „Ich bin müde."
    „Vielleicht würde es dich
interessieren."
    „Meinst du?"
    „Ich werde es versuchen. Du hast von
der Gerechtigkeit gesprochen. Mit der Gerechtigkeit ist es wie mit der
Gesundheit, man denkt an sie, wenn sie fehlt, und unbestimmt ist sie in der
Tat, vielleicht aber ist sie am ehesten der Wunsch, das Unrecht zu tilgen, und
das ist sehr bestimmt. Ein Unrecht ist gleich dem anderen, dem Menschen aber
scheint es, das größte Unrecht sei das, das man ihm zugefügt hat. Und wenn es
ihm so scheint, dann ist es auch so, denn man kann nicht mit fremdem Kopfe
denken."
    Das Uhrwerk des Muftis wurde wieder
aufgezogen. Er sah mich überrascht an, die Augen mit den schweren Tränensäcken
richteten sich auf mich mit einer Anerkennung, die nicht gerade stark war, die
aber ausreichte, mich zu ermutigen. Ich hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Gerade
das hatte ich gewollt; er selber hatte es mich mit seiner verstümmelten
Geschichte vom Stambuler Mulla gelehrt. Doch bald sah ich ein, daß das Spiel
mit Worten leichter ist, wenn es um allgemeine Dinge als wenn es um einzelne,
ganz bestimmte geht, Dinge, die uns, nicht aber" jedermann betreffen.
    „Interessant", sagte der Mufti
erwartungsvoll, und Malik blickte mich mit Achtung an. „Interessant. Und ob
wohl mehrere Menschen denselben Gedanken denken können? Und ob sie dann mit
fremdem Kopfe denken?"
    „Zwei echte menschliche Gedanken
sind niemals dieselben, ebensowenig wie zwei Handflächen."
    „Was ist ein echter menschlicher
Gedanke?"
    „Einer, den man gewöhnlich keinem
mitteilt."
    „Schön gesagt. Vielleicht falsch,
aber schön gesagt. Und weiter."
    „Ich möchte von meinem eigenen
Unglück sprechen. Ich habe gesagt, es scheine mir am größten, weil es meines
ist. Lieber wäre mir s, es wäre fremdes, ich würde nicht drängen, es zu
erfahren, so wie ich jetzt dränge, es auszusprechen."
    Ich beeilte mich, von den
allgemeinen Betrachtungen auf das überzugehen, was mich schmerzte – solange
das Uhrwerk noch lief, solange noch einigermaßen Leben in seinen Augen war,
denn ich fürchtete, bald würde er wieder erschlaffen, und dann würden ihn meine
Worte vergebens umschwirren.
    Immer klarer wurde es mir – ihn
quälten Ode und Langeweile. Wie ein Leichentuch lag das auf ihm, wie sinkender
Nebel, wie eine Kruste von Lehm, allgegenwärtig wie die Luft, eindringend ins
Blut, in den Atem, ins Gehirn, von ihm ausströmend und
von allem, was ihn umgab, von den Dingen, vom Raum, vom Himmel, quellend wie
giftiger Dunst. Ich hatte nur die Wahl, selber zu ermatten oder dagegen zu
kämpfen.
    Ich übertreibe nicht, wäre ich
sicher gewesen, damit den Sumpfgasnebel in ihm zu zerstreuen, ich hätte die
Säume meines Geistlichengewands gehoben und einen Bauchtanz vor ihm
aufgeführt, alles hätte ich getan, was einem vernünftigen Menschen schwerlich
auch nur in den Sinn kommt. Vielleicht würde seine Aufmerksamkeit, ehe sie
zusammenbräche, so viel bewirken, daß die gelbe träge Hand die vier
entscheidenden Wörter schriebe: Den Gefangenen Harun freilassen. Ohne daß er
wüßte, was seine Hand geschrieben hat, ohne daß er sich später auch nur einmal
daran erinnern würde. Ich wiederhole es, zu allem wäre ich bereit gewesen, zu
jeder Narrheit, jeder Schande, und hätte mich ihrer später nicht geschämt,
sogar mit Stolz daran gedacht, wie ich, um eines lebendigen Menschen, um meines
Bruders willen, eine Leichnamsgleichgültigkeit besiegt hätte. Doch ich wagte
nicht, das Spiel zu wechseln, ich sah, daß ihn für einen

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