Der Dieb der Finsternis
den Bienenstock größer, die Firma stabiler, den Boss reicher zu machen? Stört dich das nicht? Schließlich hast du in Oxford studiert.«
»Meine Zeit wird kommen«, erwiderte Cindy.
»Bist du sicher? Seit deinem zehnten Lebensjahr arbeitest du auf den großen Zahltag hin. Du hast immer gesagt, du wolltest bis zu deinem dreißigsten Geburtstag dreißig Millionen besitzen, und dreihundert Millionen …«
»… bis ich vierzig bin«, gab Cindy widerwillig zu.
»Zu Wohlstand kommen aber nur die, die Risiken eingehen, Cindy. Nicht die Arbeitsbienen, nicht die Leute, die auf Nummer sicher gehen, und du gehst auf Nummer sicher. Du glaubst den Versprechungen deines Vorstandsvorsitzenden, vertraust ihm und glaubst an den allmächtigen Dollar, und doch ist es nicht selbstverständlich, dass du Erfolg haben wirst. Wahrscheinlich werden sie dich übers Ohr hauen und dich irgendwann mit ein paar wertlosen Optionsscheinen und einer Fünfundzwanzig-Dollar-Uhr in Rente schicken.«
»Sie werden mich gut versorgen. Ich vertraue ihnen.«
»Deiner Schwester aber nicht«, erwiderte Iblis, als wäre dies der Beweis für seine Theorie. »Lass mich noch einmal zusammenfassen: Du kannst an einen Chef glauben, dem du noch nie begegnet bist, und lässt ihn über deine Zukunft und damit über dein Leben entscheiden für die Aussicht, Geld damit zu verdienen, aber du weigerst dich, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es Kräfte geben könnte, die größer sind als die eines Menschen, göttliche Mächte und die Aussicht auf ein ewiges Leben.«
Cindy starrte Iblis in die Augen. Sie war sich ziemlich sicher, dass es um seinen Geisteszustand schlecht bestellt war, denn einerseits sprach er über Gott, würde andererseits aber nicht zögern, sie und Simon zu töten, wenn er dadurch bekommen konnte, was er so unbedingt haben wollte.
»Wir werden geboren, wir leben, und wir sterben«, sagte Cindy. »Das ist es. Nichts davor. Nichts danach. Kein Gott, keine Zauberei oder irgendwelche Mysterien, kein Himmel und keine Hölle. Und nichts, was du sagen könntest, könnte mich vom Gegenteil überzeugen.«
»Und wenn ich dir etwas zeigen würde?« Iblis öffnete die obere Abdeckung der Lederröhre und drehte die innere Verriegelung auf. Er zog die Karte heraus und rollte sie mit ehrfürchtiger Miene auf dem Tisch aus.
Cindy schaute auf die aufwendige Karte. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Dann blickte sie wieder in die kalten, leblosen Augen ihres Kidnappers, neugierig, was er ihr zeigen wollte, und warum.
»Was, wenn ich dir ein Geheimnis verraten würde?«, fragte Iblis weiter. »Ein Geheimnis, das dein ganzes Denken verändern könnte?«
31.
K C rannte durch das Treppenhaus die drei Etagen nach unten und riss die breite weiße Feuertür aus Metall auf. Vorsichtig lugte sie nach draußen in den Istanbuler Morgen; die Temperaturen stiegen schon jetzt unerbittlich, und die Feuchtigkeit erschwerte jeden Atemzug. Die kopfsteingepflasterte Straße war leer, sah man von ein paar Ladenbesitzern ab, die ihrer Routine nachgingen, um alles für den neuen Tag vorzubereiten.
KC blieb im Türrahmen stehen. Ihr Herz pochte wild, und sie war bereit, jeden Moment loszurennen, denn sie wusste nicht, ob die Polizei sie beobachtete, Iblis ihr nachstellte oder irgendetwas Unbekanntes hinter ihr her war. Und was Michael anging – in ihrem Kopf herrschte ein einziges Wirrwarr. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht. Sie hatte ihm vertraut, mit ihm geschlafen. Dass ihrer beider Leidenschaft echt gewesen war, stellte sie nicht infrage, doch änderte das nichts an der Tatsache, dass er verschwunden war, zusammen mit dem Sultansstab. KC hoffte, dass er keine Dummheit versuchte. Wenn Iblis herausfand, dass Michael noch am Leben war, würde er beim zweiten Mal nicht versagen – das wusste sie, dazu kannte sie den Mörder zu gut. Ihr blieben also knappe fünf Stunden, um Michael zu finden und Iblis den Stab zu übergeben. Andernfalls waren ihre Schwester und Simon tot. Und wer wusste schon, wer sonst noch.
Plötzlich bog eine Limousine um die Ecke, ganz langsam, und rollte geradewegs in ihre Richtung. KC trat zurück und versteckte sich im Treppenhaus, ließ die Tür einen Spaltbreit geöffnet, um den näher kommenden Wagen im Auge behalten zu können. Die schwarze Luxuskarosse passte überhaupt nicht in die heruntergekommene Gegend und wirkte in diesem Umfeld völlig fehl am Platz. Aus Versehen fuhr sie aber nicht hier herum.
Der Wagen kroch
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