Der Dieb der Finsternis
Gespensteraugen.
»Er muss dringend ins Krankenhaus«, sagte Cindy. Dabei funkelten ihre Augen vor Angst, er könne sie erwischen.
Iblis überprüfte die halbleere Infusion und schnippte mit den Fingern gegen den Schlauch. Er tat so, als habe er nicht gehört, was Cindy gesagt hatte, und ging zur Wand auf der anderen Seite des Raumes. Er schob ein Bild zur Seite, das einen Löwen zeigte, der gerade eine Gazelle riss. Hinter dem Bild kam ein Wandsafe zum Vorschein.
»Na, das ist ja nicht gerade einfallsreich«, meinte Cindy kopfschüttelnd. Die Erleichterung, dass er sie nicht erwischt hatte, verlieh ihr Mut.
»Ich bin sicher, dass du den Safe während meiner Abwesenheit bereits entdeckt hast«, sagte Iblis.
»Hattest du denn keine Angst, ich könnte ihn aufbrechen?«
»Das Ding ist zehn Zentimeter dick. Es kann jeder Explosion standhalten, jedem Brand und ganz bestimmt dir. Und selbst wenn du ihn aufbekommen würdest, kämst du hier trotzdem nicht raus.« Iblis wies auf die Tresortür. »Ich bin sicher, dir ist schon aufgefallen, dass die Tür von innen keinen Griff hat.«
Iblis drehte das Einstellrad nach rechts und nach links, bis der Wandsafe sich öffnete. »Wusstest du, dass der Liebhaber deiner Schwester ein Dieb ist?«
»Nein, aber das überrascht mich nicht.« Weiter ging Cindy nicht darauf ein. Sie starrte Iblis an wie einen Fremden. »All die Jahre habe ich mir eingebildet, du wärst ein Freund … einer der wenigen Menschen, denen ich trauen kann.«
»Ich habe dich nie belogen.« Iblis’ sonore Stimme klang nüchtern und sachlich. »Ich habe dich und KC immer wie meine Familie behandelt.«
»Versuch hier nicht, mein Herz zu erweichen.«
»Hast du so was überhaupt, Cindy?«, gab Iblis mit einem Lächeln zurück.
»Als ich die Tür öffnete, wie hätte ich da wissen sollen, dass der Mensch, der vor mir stand, mich entführen und gewalttätig sein würde?« Cindy richtete den Blick kurz auf den bewusstlosen Simon; dann starrte sie Iblis wieder an, zornig und anklagend. »Dass er sich als Verbrecher entpuppt, genau wie meine Schwester?«
»Schämst du dich für sie?«
»Mehr als du je begreifen könntest«, erwiderte Cindy voller Abscheu.
»Du bist widerwärtig. Läufst durch die Weltgeschichte mit dieser Päpstlicher-als-der-Papst-Haltung, verurteilst deine Schwester, vergisst dabei aber völlig, was sie deinetwegen alles geopfert hat. Damit du dich in deinen Schafspelz hüllen und der Welt erzählen konntest, dass du deinen Abschluss in Oxford gemacht hast. Steht ihr Name auf deinem Diplom? Der sollte da eigentlich stehen. Alles, was du in deinem Leben erreicht hast, verdankst du ihr.«
»Sie hat mich mein Leben lang belogen. Sie ist eine gewöhnliche Diebin.«
»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst«, zischte Iblis.
Als sie Iblis’ Blick sah, der sich förmlich in sie bohrte, verstummte Cindy.
»Deine Schwester ist alles andere als gewöhnlich«, sagte Iblis. »Sie würde ihr Leben für dich riskieren. Würdest du für sie das Gleiche tun? Würdest du für deine Schwester dein Leben riskieren?«
»Du verteidigst sie, bist aber trotzdem bereit, sie zu töten, wenn sie nicht tut, was du von ihr verlangst«, stieß Cindy hervor. »Du tickst ja nicht richtig.«
Iblis ging zu dem kleinen Kühlschrank, nahm eine Cola heraus, drehte den Verschluss ab und trank die Flasche zur Hälfte leer. Erst dann antwortete er.
»Weißt du, wie das ist, wenn man panische Angst hat?« Er stellte die Colaflasche auf den Tisch und ging auf Cindy zu. Sie erstarrte bei dem Gedanken, dass sie möglicherweise zu weit gegangen war. Im nächsten Moment presste Iblis seine Wange fest gegen ihr Ohr. »Du hast nicht die leiseste Ahnung, was panische Angst ist.«
»Ich soll keine Ahnung haben, was Angst ist?« Cindy packte die Wut. »Du bedrohst unser Leben und sagst dann so etwas?«
»Hast du Angst vor dem Tod?«
Die Frage machte Cindy sprachlos. Ihre Hände zitterten, ihre Handflächen wurden schweißnass, und sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Der Mann, der vor ihr stand, war in ihrer Jugend ihr und KCs Freund gewesen, hatte ihnen Geld gegeben und ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war die Schulter gewesen, an der sie sich hatten ausweinen können, und doch hatte er die ganze Zeit seine wahre Natur verborgen, hatte sich mit der Unterwelt abgegeben und ein Leben in der Welt des Verbrechen geführt. Und jetzt war sie bloß ein lebendes, atmendes Druckmittel für ihn, um ihre Schwester dazu
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