Der Dieb der Finsternis
es nicht gewöhnt, dass jemand ihm nicht gehorchte. Langsam hob er die Arme, streckte sie zur Seite und umarmte KC, was diese allerdings nicht erwiderte. Dann legte der Mann seinen Kopf zur Seite und berührte ihre Wange mit seiner. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr. »Und ob du das wirst, meine Liebe«, sagte er.
Venue ließ KC los und trat zurück an den Tisch. Die drei konzentrierten sich wieder ganz und gar auf die Karte.
KC stand da, schockiert von der Überheblichkeit dieses Mannes. Sie hatte Mühe, ihre Gefühle im Zaum zu halten. »Du hast mich in den Tod geschickt«, sagte sie trotzig.
»Ja«, erwiderte Venue, ohne von der Karte aufzusehen. »Aber warum kommst du nicht her und gesellst dich zu deiner Schwester und mir, damit wir uns gemeinsam ansehen können, wohin wir gehen?«
KC ignorierte die Aufforderung und die Vermessenheit des Mannes und schaute Iblis an. Dabei sah sie etwas, was sie noch nie zuvor gesehen hatte. KC kannte den Mann seit vielen Jahren, hatte miterlebt, wie er menschliches Leben missachtete, wie gelassen er blieb im Angesicht einer Gefahr. Er konnte einen Menschen auf dreißig verschiedene Arten töten, und doch entdeckte sie jetzt etwas an Iblis, was sie nie erwartet hätte: Furcht. Venue flößte ihm Furcht ein, wie er neben ihm stand.
Cindy hingegen war fasziniert von Venue. Sogar ein Hauch von Stolz lag in ihrem Blick, als sie ihn anschaute. Als er ihre naive Bewunderung sah, streichelte Venue ihr liebevoll über den Rücken, rang sich ein Lächeln ab und zog sie dadurch noch mehr in seinen Bann.
Angewidert wandte KC sich ab und sah die beiden Lederrollen, die an der Wand der Bruchbude lehnten. Sie griff nach der ersten, hob sie auf und öffnete den Deckelverschluss. Die Rolle war leer; was sie enthalten hatte, wurde zurzeit auf dem Holztisch von Venue genauestens studiert. KC ergriff die zweite Rolle und wollte den Deckel heben, hielt dann aber inne, denn sie erinnerte sich an die Wirkung, die der Stab auf sie gehabt hatte, als sie ihn aus dem Sarkophag genommen hatte.
»Ehre, wem Ehre gebührt«, sagte Venue und schaute dabei auf die Rolle in KCs Hand. »Iblis hat dich zwar gut ausgebildet, aber du hast all meine Erwartungen übertroffen. Als ich ihn damals losgeschickt habe, damit er auf dich aufpasst und dir beibringt, wie man auf der Straße überlebt, ging ich davon aus, dass deine Karriere als Kriminelle nur von kurzer Dauer sein würde. Wer hätte gedacht, dass sie sich zu einer lebenslangen Berufung entwickelt? Du …« Venue warf Cindy einen raschen Blick zu. »Tut mir leid, meine Liebe. Du, KC, du bist ganz meine Tochter.«
KC schenkte Venue keinerlei Beachtung, und seine lobenden Worte fielen bei ihr auf taube Ohren. Sie schaute in die Röhre und auf die beiden ineinander verschlungenen Schlangen, auf ihre Silberzähne und Rubinaugen. Dabei dachte sie, dass diese Zwillingsschlangen im Grunde wie Iblis und Venue waren. Sie zog den Stab zur Hälfte heraus, blickte auf die blutroten Rubinaugen, mit denen die Schlangen einander anblitzten, schaute auf die weit aufgerissenen Mäuler, mit denen sie einander drohten, und fragte sich, wie jemand auf die Idee gekommen war, ein derart abscheuliches Kunstwerk zu schaffen.
»Ist dir eigentlich klar, was du da in der Hand hältst?« Venue wartete nicht auf ihre Antwort. »Was du gestohlen hast, ist der Schlüssel zu einer Welt, die nur ganz wenige je mit eigenen Augen gesehen haben. Es ist die Antwort, nach der ich dreißig Jahre lang gesucht habe.«
KC grinste nur. Der Stab hatte nicht die geringste Wirkung auf sie: Sie verlor nicht das Gleichgewicht, nichts drehte sich vor ihren Augen, und ihr wurde nicht übel. Der Stab hatte nicht den desorientierenden Effekt, der ihr so zu schaffen gemacht hatte, als sie ihn aus dem Sarkophag des Sultans gestohlen hatte. Und sie wusste, warum. Michael war noch viel erfinderischer, als sie gedacht hatte, und besaß die seltene Gabe, weit vorauszudenken. Ihr wurde bewusst, dass der Hermesstab, den sie in den Händen hielt, in Wahrheit eine Imitation war.
Dass sie innerlich schallend lachte, wärmte KC die Seele, denn als sie auf Iblis, Cindy und Venue schaute, der vor seiner Karte stand und sich voller Hochmut und Selbstherrlichkeit auf die eigene Schulter klopfte, da wusste sie, dass sie es möglicherweise auf den Berg hinauf schaffen würden, dass die Karte sie vielleicht zu dem Ort führte, nach dem Venue gesucht hatte. Doch ohne den echten Stab würde er diesen Ort
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