Der Dieb der Finsternis
anderes zu sehen als ihr Gesicht.
Es kostete ihn alle Kraft, doch endlich drehte er sich um und lief durch die Tür aus Ebenholz zurück ins Licht. Die Stimmen verstummten, als hätte es sie nie gegeben und als wäre Michaels Verstand in ein Wasserloch aus purem Wahnsinn gestürzt, um knochentrocken wieder aufzutauchen und sich an nichts mehr erinnern zu können.
»Was ist da drin?«, fragte Gianni und trat einen Schritt auf die Tür zu.
Michael sah die beiden Wachhunde an und fragte sich, ob sie auch nur eine Minute in diesem finsteren, von Gott verlassenen Raum überleben konnten.
Silviu trat einen Schritt zurück, während Gianni noch weiter auf die Tür zuging und mit seiner Taschenlampe in die Kammer hineinleuchtete. Im gleichen Moment wurde der Schatz sichtbar, Berge von Gold und Juwelen, die sich an den Wänden stapelten und deren Glitzern und Funkeln sich im Strahl der Lampe brach. Münzen und Kelche, Barren, Becher und Rüstungen, kistenweise Juwelen und Edelsteine. Im wahrsten Sinne des Wortes eine ganze Schiffsladung. Ein Schatz, den man irgendwann und irgendwie aus diesem Raum hier gestohlen hatte und der über die Weltmeere gesegelt war, nur um von Kemal Reis und seinen Männern wieder hierher zurückgebracht zu werden, in diese versteckte Höhle hoch über der Erde.
Vor der Wand lagen zusammengefaltet mehrere gewaltige Abdeckplanen, die grau und zerrissen waren und so gar nicht zum Rest der Kammer passten. Es dauerte einen Moment, bis Michael begriff, dass es Segel waren – riesige, alte, zerrissene graue Leinensegel.
Er fragte sich, was dieses Schiffszubehör so weit vom Meer entfernt zu suchen hatte, doch als er länger darauf blickte, wurde ihm klar, dass Kemal und seine Männer die Segel dazu benutzt hatten, das Gold den Berg hinauf und durch den Tempel und die Höhle zu tragen.
Und schließlich sah er in einer Ecke die Bücher, die Schriftrollen, Pergamente und Steinplatten, die verstaubt auf hölzernen Stapelbrettern lagen, versteckt vor der Welt – Hunderte von Dokumenten, angefertigt auf den jeweiligen Schreibmaterialien ihrer Zeit: Tierhaut, Vellum, Stein, Leder und Papier. Nun wurde offensichtlich, warum man die Tür mit Pech versiegelt hatte: Das Pech hielt die Feuchtigkeit fern und schützte das Papier, die Häute und Felle vor Zerfall, indem es ein trockenes Umfeld schuf und eine Barriere zu der feuchten Hölle vor der Tür bildete.
Michael brauchte sich die Dokumente nicht anzuschauen. Er wusste auch so, worum es sich dabei handelte. Er hatte die Etiketten oben in der Bibliothek gelesen, wo man die Schriften früher aufbewahrt hatte; er wusste, mit welchen Themen sie sich befassten und was sie offenbarten.
Michael wurde klar, dass der Reichtum dieser Kammer nicht nur in den Edelmetallen und Juwelen bestand, von denen die Wachhunde so fasziniert waren, sondern auch in den Worten und Informationen, diesem gesammelten Wissen, das die Mysterien der Finsternis aufdecken würde, ihre Macht, ihre Fähigkeiten, ihre Quellen und ihre Geheimnisse.
»Mein Gott«, murmelte Gianni und starrte auf die Berge aus Gold und Edelsteine.
Michael nahm dem Wachhund die Fackel aus der Hand, denn er hatte beschlossen, sich in diesen unterirdischen Gefilden ohne Lichtquelle keinen Zentimeter mehr von der Stelle zu rühren.
»Ich glaube, man darf getrost behaupten, dass Gott mit dem hier nichts zu tun hat«, sagte er und fügte nach einem Moment des Schweigens hinzu: »Ihr könnt Venue melden, dass wir gefunden haben, wonach er sucht.«
56.
G ianni verschwand und stieg die Treppe hinauf, um Venue zu holen, während Silviu zurückblieb, um Michael weiterhin zu bewachen.
»Möchtest du dir das mal genauer ansehen?«, fragte Michael und wies dabei in den Raum, in dem die Schätze sich häuften.
Silviu hielt seine MP fest und tat so, als hätte er die Frage gar nicht gehört. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, die Kammer zu betreten. Er fürchtete, dass dieser Raum die Ursache für all das Böse war, das man in dieser unterirdischen Welt so deutlich spüren konnte. Silviu wusste, was für ein Ort das hier war – schon als sie die Treppe hinuntergestiegen waren, hatte er sich davor gefürchtet. Doch hatte er nicht die Absicht, Michael seine Furcht zu zeigen. Silviu war in Rumänien aufgewachsen, und obwohl er seit seiner Kindheit ein Verbrecher gewesen war, hielt er immer noch an seinen katholischen Wurzeln fest. Das Bild der Höhle, die sich hier vor ihm auftat, war haargenau das Bild, das
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