Der Dieb der Finsternis
er sich als kleiner Junge von der Hölle gemacht hatte: die rötlichen Wände, an denen das Licht der Fackelfeuer tanzte, die Dampfschwaden, die aus den Tümpeln in der halbgeschmolzenen Erde aufstiegen. Obwohl er vom Verstand her genau wusste, dass er sich nicht in irgendeinem spirituellen Reich befand, wurde er das Gefühl nicht los, als sei das Böse hier allgegenwärtig. Es war in den Schatten, lauerte hinter jedem Lichtstrahl, als warte es dort auf ihn wie ein wildes Tier, das sich im Gebüsch an seine Beute heranschlich.
Silviu beobachtete, wie Michael in die Kammer mit den Büchern und den Schätzen zurückkehrte – und im nächsten Moment war ihm, als stürze die Welt über ihm zusammen und als wüsste die Höhle, dass er jetzt ganz allein war. Er drehte sich um die eigene Achse und knipste die Taschenlampe ein, als könne ihn das irgendwie beschützen und das Böse in Schach halten.
Er hoffte sehnlichst, dass Gianni bald mit Venue erschien, während Panik in ihm aufstieg. Die Zeit schien sich endlos dahinzuziehen, und das Alleinsein wurde zur Qual, die sich bis ins Unerträgliche steigerte und schlimmer wurde als die Furcht vor der Kammer, in der Michael verschwunden war.
Zögernd blickte Silviu in den Raum. Dann trat er durch den Türrahmen. Dabei umklammerte er mit der rechten Hand sein Gewehr, den Finger am Abzug. In der linken Hand hielt er seine Taschenlampe, einen Gegenstand, den er in dieser Situation für eine mindestens gleichwertige, wenn nicht wertvollere Waffe hielt als das Gewehr.
Er leuchtete mit der Taschenlampe durch den Raum und suchte nach Michael, aber sofort schlugen die Berge aus Gold ihn in ihren Bann. Einen vergleichbaren Schatz, einen derartigen Reichtum hatte er nie zuvor gesehen. Wenn er nur eine Hand voll davon einsteckte, hatte er für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Gier verscheuchte seine Furcht, aber auch seine Vorsicht.
Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, und Silviu erkannte, dass die Ablenkung ihn das Leben gekostet hatte. Die Klinge bohrte sich in seine Brust, und das Gewehr wurde ihm aus den Händen gerissen. Trotz der Schmerzen, die seine tödliche Verletzung verursachte, holte er aus und traf Michael mit solcher Wucht an der Schläfe, dass dieser rücklings zu Boden stürzte. Er bewegte sich noch einen Schritt auf Michael zu, brach dann aber zusammen, rollte auf den Rücken und blickte voller Verwunderung auf den mit Juwelen besetzten Dolch, der aus seinem Brustbein ragte. Eisige Kälte kroch durch seinen Körper. Wieder erfasste ihn Angst. Er wollte nicht sterben, erst recht nicht hier, wo das Böse in den Schatten lauerte und nur darauf wartete, dass seine Seele seinen Körper verließ.
Silvius Lunge füllte sich, und er ertrank an seinem eigenen Blut, ohne den Blick von der kunstvoll verzierten, tödlichen Waffe losreißen zu können, die in seiner Brust steckte. Er sehnte sich zurück nach Rumänien, nach dem Leben, nach einer zweiten Chance.
Als der Schleier des Todes sich über seine Augen legte, glaubte er zu sehen, dass die Schatten sich plötzlich bewegten und zum Leben erwachten.
***
Michael packte Silvius Füße und zog ihn tiefer in die Kammer hinein. Dann nahm er ihm das Gewehr und die Pistole ab. Außerdem entdeckte er vier Ladestreifen mit Munition, ein Messer, ein Feuerzeug und ein Mobiltelefon.
Michael wusste, dass er bis gerade noch einen Wert für Venue gehabt hatte – jetzt nicht mehr. Er hatte nichts mehr zu bieten und stellte für Venue und sein Vorhaben nur noch eine Bedrohung dar. Also würden sie ihn töten, wenn sie zurückkehrten.
Michael verließ die Kammer und blickte auf die Wendeltreppe, die nach oben in die Freiheit führte. Gianni würde jede Sekunde zurück sein, zusammen mit Venue und möglichen weiteren Begleitern. Einen Schusswechsel konnte er nicht gewinnen, da seine Gegner in der Überzahl waren. Michael dachte fieberhaft nach und versuchte, sich irgendetwas einfallen zu lassen.
Es war schon fast keine Zeit mehr, als er endlich auf eine Idee kam.
Michael eilte zurück in die mit Gold gefüllte Kammer und machte sich an die Arbeit.
57.
B usch stand versteckt hinter einem steinernen Torbogen und schaute den vierzig Meter langen dunklen Gang hinunter auf die beiden Wachhunde, die vor einer der Türen Stellung hielten. Er konnte sie murmeln hören, denn sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie gar nicht mitbekamen, dass sich ein Eindringling in ihrer Nähe befand. In regelmäßigen Abständen hingen
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