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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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war fünfzehn Jahre alt, als sie ihren ersten Diebstahl beging. Ihr Opfer war ein unverheirateter Mann in den Vierzigern, der allein in einem Londoner Stadthaus in der Nähe des Trafalgar Square lebte. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen sah sie ihn in der billigen Spielhalle auf dem gleichen Stuhl sitzen und beobachtete, wie er den jungen Mädchen, die kamen und gingen, anzügliche Blicke zuwarf.
    Dann kam der Donnerstagnachmittag, der ihr ganzes Leben veränderte. Sie war mit zwei Freundinnen, Lindsey und Bonnie, in die Whistle Down Arcade gekommen. Jedes der Mädchen kaufte sich eine Flasche Sprudelwasser. Sie wollten sich gerade auf den Weg in die Halle mit den Flipperautomaten machen, als der Mann Bonnie ansprach. KC war es gewohnt, dass die Männer sie anstarrten. Aufgrund ihrer Größe und ihres Erscheinungsbildes wirkte sie eher wie eine Achtzehn- oder Zwanzigjährige. Bonnie hingegen sah genau so alt aus, wie sie war, und wirkte unschuldig mit ihrem kurzen dunklen Haar und den Sommersprossen, sodass KC die Galle hochstieg, als sie sah, dass der Mann sich an sie heranmachte. KC zog Bonnie zur Seite und fragte sie, was sie da treibe, doch Bonnie riss sich los und sagte ihr, sie solle sich um ihren eigenen Kram kümmern. KC und Lindsey beobachteten, dass sie sich mit dem Mann an einen Tisch in die Ecke setzte, und überließen sie wütend ihrer Starrköpfigkeit, ihrer Dummheit und ihrem Schicksal.
    KC und Lindsey vertrieben sich den Nachmittag mit typischen Teenagervergnügungen: Sie flirteten, lachten und ließen sich treiben. Gegen siebzehn Uhr dreißig stellten sie fest, dass Bonnie bereits ohne sie gegangen war, und machten sich auf den Heimweg.
    Kaum öffnete KC die Tür ihrer kleinen Wohnung in Kentshire, stieg ihr der Geruch von aufgewärmtem Rindereintopf in die Nase. Ihre neunjährige Schwester Cindy saß auf dem Bett und machte ihre Hausaufgaben; der Essensteller stand neben ihr auf dem Nachttisch. Beide Mädchen hatten schon früh gelernt, selbstständig zu sein. Ihre Mutter Jennifer Ryan arbeitete nachts für eine Reinigungsfirma in Langate, wischte Fußböden und putzte Toilettentöpfe. Tagsüber verdingte sie sich als Schneiderin in einer chemischen Reinigung am Piccadilly Circus. Seit KC zurückdenken konnte, hatte ihre Mutter immer zwei Jobs gehabt und ihre Tage und Nächte geopfert, um ihre beiden Mädchen großziehen zu können. Und sie hatte es ganz allein getan, denn der Vater der Mädchen war acht Jahre zuvor gestorben.
    Es war eine von KCs ersten Erinnerungen. Nicht wie die verschwommenen, bruchstückhaften Erinnerungen, die man aus der Zeit als kleines Kind hat, nein: Es war eine der ersten Erinnerungen, bei denen alles ganz klar ist: die Farben, die Gerüche, die Menschen – und vor allem die Gefühle. Der Winterwind heulte über das zugefrorene Gelände des St.-Thomas-Friedhofs im englischen Shrewsbury, und die umherwirbelnden Schneeflocken, die ihr ins Gesicht fegten, fühlten sich so scharf an wie Glasscherben. Sie stand da und hielt die rechte Hand ihrer Mutter, Cindy hielt ihre linke. KC war gerade sieben Jahre alt geworden. Am lebhaftesten erinnerte sie sich an das Gefühl, besser gesagt, an das Fehlen jedweden Gefühls. Man hatte ihr gesagt, Beerdigungen seien etwas Trauriges, Anlässe, bei denen man Abschied nahm von geliebten Menschen. Doch als KC zu ihrer Mutter aufblickte, sah sie keine Tränen und keinen Schmerz. Und obwohl sie noch ein kleines Mädchen war, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
    Sie hatte den Mann immer nur durch eine zweieinhalb Zentimeter dicke Glasscheibe gesehen, wenn ihre Mutter ihn im Gefängnis besuchte; aber das war nur selten vorgekommen, und die Abstände zwischen den Besuchen waren lang gewesen. Cindy, die das Ergebnis eines Gefängnisbesuchs war, bei dem man den Eheleuten gestattet hatte, ein paar Stunden allein zu verbringen, hatte er nie zu Gesicht bekommen.
    Er starb zwei Stunden, nachdem er aus dem Gefängnis geflohen war. Der Mann, nach dem sofort landesweit gefahndet wurde, war nicht einmal einen Kilometer vom Zuchthaus entfernt, als man ihn tötete. Doch er wurde nicht von der Polizei oder Gefängniswärtern erschossen, sondern von Mickey Franks – der Mann, mit dem er geflohen und der sein Zellengenosse gewesen war. Es kam zu einem Streit zwischen beiden Männern, und ihr Vater zog den Kürzeren: Ihm wurde ein Klappmesser in die Eingeweide gerammt. Anschließend übergoss man ihn mit Benzin und zündete ihn an.
    Jahre später erklärte

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