Der Dieb der Finsternis
abgeschoben werden, die sich nicht um Sie kümmern.«
»Wie alt sind Sie, Mädchen?«
»Neunzehn. Ich arbeite und kann für sie aufkommen«, log KC überzeugend. Was das Lügen anging, hatte sie den Bogen heraus.
Die Frau blickte auf die beiden Schwestern, die sich aneinander festhielten. Sie schaute sich in der kleinen Wohnung um, betrachtete das spärliche Mobiliar. Drei Menschen waren in diesem Zimmer, und allen dreien brach das Herz. »Habt ihr sonst niemanden? Wo ist euer Vater?«
KC und Cindy sahen einander an. »Er ist tot«, flüsterte Cindy beschämt.
»Bitte, nehmen Sie sie mir nicht weg«, hauchte KC. »Ich bin alles, was sie noch hat.«
»Ich will euch nicht allein lassen, Mädchen.«
KC hielt Cindy nur noch fester. »Wir sind nicht allein.«
Die Frau packte ihre Sachen in die Handtasche, erhob sich, atmete tief durch und schenkte KC einen mitfühlenden Blick. »Lassen Sie mich mal überlegen, ob ich etwas arrangieren kann.«
KC stand auf, begleitete die Frau zur Tür und sperrte hinter ihr zu. Sie drehte sich wieder zu ihrer Schwester, nahm sie fest in die Arme, und ihrer beider Tränen verschmolzen zu einem Strom. Niemand würde sie trennen. Niemand würde ihr Cindy wegnehmen.
Aber als KC so dastand, bekam sie plötzlich Angst. Sie hatte keine beruflichen Qualifikationen, denn sie war ja selbst noch ein Kind, und sie verfügten über keinerlei finanzielle Mittel, um sich über Wasser zu halten. Was sie der Frau gesagt hatte, war nur ein verzweifeltes, naives Flehen gewesen. Denn so sehr Cindy KC auch brauchte: KC brauchte Cindy ebenfalls. Sie liebte ihre Schwester. Obwohl sie sechs Jahre jünger war, waren sie einander innerlich verbunden wie eineiige Zwillinge. KC gelangte zu dem Schluss, dass sie einen Weg finden würde. Sie würde ihre eigenen Wünsche zurückstellen und für ihre Schwester da sein.
Es war das letzte Mal, dass sie weinte.
***
In der nächsten Nacht war KC wieder in dem Haus am Trafalgar Square. Dieses Mal wusste sie es besser. Sie holte sich den Kissenbezug aus dem Schrank, der immer noch mit den Wertgegenständen vollgestopft war. Wieder schaute sie auf das Gemälde von Monet, auf die beiden Schwestern, die einander bei der Hand hielten. Dann ging sie in die Küche, kam mit einem Messer zurück und schnitt das Bild aus dem Rahmen. Sie rollte es zusammen, steckte es in die Tasche und huschte aus der Hintertür nach draußen.
KC ging in das Pfandhaus am Piccadilly Circus. Der alte Rist, in dieser heruntergekommenen Gegend eine Art Kultikone, stand vornübergebeugt hinter der Ladentheke. KC kannte ihn von der Kirche, oder besser, er kannte ihre Mutter.
»Herzliches Beileid, Mädchen«, sagte der Mann, und sein altes, faltiges Gesicht zeigte ehrliches Mitgefühl.
KC nickte und stellte einen Silberkelch auf die Theke.
Er sah sie an mit seinen traurig dreinblickenden Augen.
»Der hat meiner Mutter gehört. Meine Schwester und ich, wir brauchen das Geld.«
Rist hatte KCs Mutter wirklich gut gekannt, und er wusste, dass sie niemals über die Mittel verfügt hatte, ein solches Stück zu erwerben. Als er auf den Kelch blickte und dann in KCs Augen, brach es ihm das Herz, denn er wusste, was KC hier aufführte. Er gab ihr tausend Pfund für den Kelch, beinahe das, was er tatsächlich wert war. Ein mutterloses Kind konnte er nicht betrügen.
Und so ging es die nächsten drei Monate weiter. Wann immer sie Geld für Lebensmittel oder für die Miete benötigten, ging KC los und verkaufte Rist ein weiteres Stück aus dem Haus am Trafalgar Square. Doch zog sie in all der Zeit kein einziges Mal in Erwägung, das Gemälde zu verkaufen. Sie hängte es in Cindys Zimmer an die Wand, genau über das Bett, als Erinnerung daran, dass sie eine Familie waren, dass sie die Schwestern waren, die einander immer zur Seite stehen würden.
KC kümmerte sich um Cindy, als wäre sie nicht ihre Schwester, sondern ihre Tochter. Praktisch über Nacht wurde KC erwachsen, half Cindy bei den Hausaufgaben, kochte für sie, putzte und wusch für sie. Sie hatten einander, und keine von beiden würde zulassen, dass der anderen ein Leid widerfuhr.
Doch nach drei Monaten war der Kissenbezug leer; alles war weg, außer einem einzigen Stück. KC befürchtete, ihrer beider Illusion von einer sicheren Existenz würde platzen wie eine Seifenblase. Es war nichts mehr da, was sich noch verkaufen ließ. KC drang noch einmal in das Haus am Trafalgar Square ein, doch war es leer; ausgeräumt und besenrein stand es zum
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