Der Dieb der Finsternis
waren, sodass man sie nicht aufbrechen konnte. Plötzlich saß sie in der Falle. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das eine Tasche mit Diebesgut in der Hand hielt. Sie würde mit keiner Erklärung aufwarten können und keine Möglichkeit haben, sich aus der Sache herauszureden. Wahrscheinlich würde sie in einem Erziehungsheim enden oder, schlimmer noch, im Gefängnis.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie versuchte, jede Tür zu öffnen, jedes Fenster, aber es war vergebens. Bald schon hörte sie die Polizeisirenen, und Augenblicke später wurde gegen die Tür gehämmert. Bonnie sank auf den Fußboden, zitternd und in heller Panik. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Was würde ihre Mutter sagen?
Und da fiel es ihr auf einmal wie Schuppen von den Augen. Sie hätte nicht sagen können, woher der Gedanke so plötzlich kam, aber mit einem Mal war sie konzentriert und zu allem entschlossen.
Sie zerriss sich ihre Bluse und fing an zu schreien, so laut sie konnte. Die Tasche mit dem Diebesgut warf sie rasch in einen Schrank, und das Gemälde hängte sie zurück an die Wand.
Wieder hämmerte die Polizei gegen die Haustür. KC antwortete, indem sie erneut schrie.
Dann wurde die Tür aufgebrochen. Zwei Polizeibeamte stürzten in den Raum, in dem sie KC weinend auf dem Boden kauern sahen. Sie schluchzte noch lauter, als die Polizeibeamtin sich zu ihr niederbeugte und sie fragte, wer sie sei, worauf sie antwortete: »Ich könnte die Dinge, die er von mir verlangt hat, niemals tun.«
»Was für Dinge?«, fragte die Polizistin.
KC erwiderte: »Fragen Sie Bonnie.«
Am Tag darauf wurde der Mann verhaftet. Er hatte sich an zahlreichen Teenagern vergangen, und in seinem Kleiderschrank fand man ein geheimes Lager an Kinderpornographie. Nun war es egal, wie viel Geld er besaß. Es würde niemals reichen, um den Kinderschänder aus dem Gefängnis herauszukaufen.
Als KC an jenem Abend wieder nach Hause in ihre Wohnung kam, saß ihre Schwester neben einer grauhaarigen Frau mittleren Alters. Cindy blickte auf. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Im nächsten Moment warf sie sich an KCs Brust und begann zu schluchzen, dass ihr kleiner, neunjähriger Körper bebte. KC hielt sie ganz fest und strich ihr mit der Hand über den Rücken, um sie zu beruhigen; schließlich kauerte sie sich vor Cindy und drückte sie fest an sich.
»He, Kleines«, sagte KC. »Alles in Ordnung. Was ist passiert?«
Doch als KC ihrer Schwester das kastanienbraune Haar aus der Stirn strich und ihr die Tränen von den Wangen wischte, konnte sie endlich in ihre blauen Augen sehen. Und da sah sie den Schmerz und das Leid, das keine Neunjährige jemals erfahren dürfte.
KCs Welt drohte aus den Angeln zu brechen. Sie wusste, was geschehen war, bevor die grauhaarige Frau auch nur ein Wort sagte. Ihre Mutter war tot. Jennifer Ryan war vom Langate Tower »gefallen«.
Ihr ganzes Leben, vierunddreißig Jahre lang, hatte ihre Mutter an Depressionen gelitten, aber im Verlauf der letzten zwölf Monate waren sie zusehends schlimmer geworden. Jennifer Ryan hatte sich angewöhnt, ein Lächeln aufzusetzen, doch erzählten ihre Augen eine andere Geschichte, und ihre Unterhaltungen mit ihren Kindern waren immer seltsamer geworden. Als wären sie Fremde. Und jeden Abend hatte KC ihre Mutter leise schluchzen hören, wenn sie im Bett lag und sich an der Bibel festhielt. Sie war eine gottesfürchtige Frau, die niemals die Sonntagsmesse versäumte, die ihr Leben nach der Heiligen Schrift lebte und niemals wissentlich ihre Seele der Verdammnis preisgegeben hätte, indem sie Selbstmord beging. Jetzt, da sie und Cindy dasaßen, zwei Schwestern, die plötzlich ganz allein waren auf der Welt, wusste KC, dass ihre Mutter am Ende den Verstand verloren hatte.
KC hockte auf dem Boden und wiegte Cindy in den Armen.
»Ihre Schwester wird mit uns kommen müssen«, sagte die Frau. »Wir werden sie bei einer Familie unterbringen.«
»Aber ich bin ihre Familie«, entgegnete KC unter Tränen. »Ihre einzige Familie.«
»Ich weiß, dass es hart ist …«
»Wissen Sie das wirklich?«, fuhr KC sie an. »Oder ist das nur so ein Spruch, den man Ihnen bei der Fürsorge beigebracht hat?«
KC zwang sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Sie hielt Cindy fest umschlungen und blickte die ältere Frau an. »Stellen Sie sich vor, dass jemand, den Sie lieben, plötzlich stirbt und dass man Sie dann wegreißt von dem einzigen anderen Menschen auf der Welt, der Sie liebt, und dass Sie an Fremde
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