Der Dieb der Finsternis
unterzutauchen. Im Priesterseminar fragte ihn niemand nach seinen Absichten oder nach seiner Lebensgeschichte; es war eine Zeit, in der man noch kein Führungszeugnis und keine Empfehlungsschreiben benötigte. Wer danach strebte, das Wort Gottes zu predigen, wurden mit offenen Armen empfangen.
Venue trat dem Priesterseminar von St. Augustine bei, ließ sich zum Geistlichen ausbilden und kehrte damit zur christlichen Religion seiner Jugend zurück. Und tatsächlich kam er innerlich zur Ruhe; seine gewalttätigen Neigungen ließen nach. Nach drei Monaten war er nicht mehr besessen von Verbrechen oder Tod; der Zorn, der ihn jeden Morgen beim Aufwachen begrüßt hatte, war verschwunden.
Die größte Veränderung jedoch fand nach sechs Monaten statt: Venue fand Erfüllung im Glauben. Er fand Gott in seinem Herzen, in seiner Seele, in jedem Atemzug, den er tat.
Philippe Venue hatte seine Berufung gefunden.
Seine Reue war ehrlich, doch behielt er sie für sich. Seinen Priesterbrüdern würde er seine sündhafte Vergangenheit wahrscheinlich niemals gestehen, da er befürchtete, dass seine Verfehlungen zu groß waren, als dass sie ihm vergeben konnten.
Während der nächsten Jahre fand er Erfüllung in seinem wiedergefundenen Glauben und wurde zu einem Bibel-Gelehrten und zu einem Fachmann auf dem Gebiet der Religionsgeschichte. Doch seine Gier nach Wissen ging weit über die traditionelle Literatur der Bibel hinaus in esoterische Gefilde. Er studierte die Evangelien des Thomas, des Judas und des Petrus sowie das Protevangelium des Jakobus. Er erforschte die anderen Weltreligionen und erfasste die Ähnlichkeiten der verschiedenen Glaubensrichtungen: Hinduismus und Islam, Buddhismus und Judentum. Religiöse Texte wie der Koran und die Torah wurden seine Lektüre, und er verschlang sie, wie andere Grisham oder King lesen.
Seine Studien führten ihn schließlich zum Mystizismus, auf den in vielen Religionen angespielt wurde – die Wunder des Christentums, die Heilige Dreifaltigkeit; die Kabbala des Judentums; die Verehrung von Engeln und Dämonen im Islam. Er stürzte sich in Studien über Hexerei und druidische Religion. Er war fasziniert von dem, was Menschen glaubten, von den Fundamenten ihres Glaubens und ihrer schieren Hingabe.
Er erforschte die Schriften Dantes und der Neopaganisten. Er las über Aleister Crowley, den man auch den »sündhaftesten Mann der Welt« nannte, studierte seine Aufsätze und las über seine Suche nach den vergessenen Stätten der Magie und der Religion. Er las Schriften über den Hermetischen Orden der Goldenen Morgenröte, über Geister- und Totenbeschwörung, Satanisten und Teufelsverehrung. Er erfuhr von albtraumhaften, von Grund auf bösen Dingen, von Hexerei und Teufelswerk. Als ein Mann, der selbst Gräueltaten verübt hatte, war er nur schwer zu schockieren, doch was er hier fand, brachte ihn beinahe um den Verstand. Und je mehr er las, desto mehr faszinierte es ihn.
Schließlich konfrontierte er seine Brüder mit diesen Dingen, seine Familie innerhalb der Kirche, und teilte die mystische Welt mit Monsignore Oswyn, einen konservativen Mann, der die Zeiten zurücksehnte, als die Menschen Gott gefürchtet hatten, statt ihn zu hinterfragen.
Oswyn saß an seinem Schreibtisch im Priesterseminar und legte den Kopf zur Seite, wobei die graue Strähne, die er sich immer über den kahlen Schädel kämmte, herunterfiel, während er aufmerksam und höflich Venues Ausführungen lauschte. Er unterbrach ihn kein einziges Mal, schaute kein einziges Mal weg.
Als Venue geendet hatte, fragte Monsignore Oswyn mit so leiser Stimme, dass es beinahe wie ein Flüstern klang: »Kannst du der Bosheit ins Herz blicken, ohne von ihr verzehrt zu werden? Das Böse kann uns versuchen, indem es uns antreibt, nach Wissen zu streben. Nur ist es manchmal ein Wissen, das wir nicht besitzen sollen.«
»Aber wir sind Männer Gottes. Wir können das Böse besser erkennen und bekämpfen als andere«, protestierte Venue.
»Ich wünschte, das wäre wahr«, sagte Oswyn. »Ich habe erlebt, wie unser Flehen um Frieden, unsere Gebete um die Erlösung der Menschheit nicht erhört wurden. Stoßen sie auf taube Ohren, oder gewinnt das Böse den Krieg um unsere Seelen?«
»Umso mehr Grund haben wir, das Böse zu verstehen.«
»Für Euch, Vater, ist das zu einer Besessenheit geworden, auf die man sogar außerhalb unserer Gemeinschaft aufmerksam geworden ist und die verurteilt wird. Selbst der Vatikan hat Nachforschungen
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