Der Dieb der Finsternis
der Stille zog sich endlos hin. »Und das ist das Beunruhigende«, sagte er schließlich.
»Ihr verurteilt mich dafür, dass ich lese!«, stieß Venue hervor. »Ihr sitzt hier alle, um mich dafür zu richten, dass ich hinter den Vorhang schaue. Ihr seid blind für das Böse, für die Finsternis in dieser Welt.«
»Wir sind nicht blind, Venue.« Oswyn förderte eine Aktenmappe zutage und legte sie auf den Tisch. »Vater Nolan hat Erkundigungen angestellt.«
Venue starrte auf die Akte. Seinetwegen brauchte man sie nicht zu öffnen; er wusste auch so, was sie enthielt.
»Und es ist mehr als beunruhigend, was er dabei herausgefunden hat.«
»Die Polizei ist da«, murmelte der älteste Priester, ohne Venue anzusehen.
»Möchtet Ihr, dass wir Euch die Beichte abnehmen?« Nolans Stimme bebte vor Furcht.
Venue sah ihn an. Er wusste nicht, ob ihn das Ganze erheitern oder verärgern sollte.
»Ihr solltet wissen, dass uns Eure Verbrechen im Zusammenspiel mit Euren privaten Interessen an diesen Punkt gebracht haben. Eure Handlungsweise hat uns keine andere Wahl gelassen. Ihr werdet nicht nur aus der Priesterschaft entlassen, sondern wegen der Verbrechen, die Ihr begangen habt, wegen der Irreführungen, die Ihr verbreitet habt, und wegen des Bösen, das Ihr in Eurem Herzen tragt und im Namen der Kirche verbreiten werdet, exkommuniziert!«
Oswyns Worte waren wie ein Blitz, der in Venues Seele schlug. Er wurde aus der einzigen wirklichen Familie, die er jemals gehabt hatte, hinausgeworfen und verbannt aus dem einzigen Ort, den er ein Zuhause genannt hatte.
In diesem Augenblick legte sich Finsternis über Venues Herz. Zorn erfüllte seine Seele. Mit hasserfüllten Augen starrte er die Priester an. Wenn die Kirche ihn nicht wollte, wenn Gott sich von ihm abwandte, dann gab es andere Orte, an die er gehen konnte.
Lautlos betraten zwei Polizeibeamte den Raum. Kein Wort wurde gesprochen, als sie sich neben ihn stellten und ihn dann zur Tür eskortierten. Venue drehte sich noch einmal um, nahm jeden der schon ziemlich betagten Priester in Augenschein und prägte sich ihre Gesichter ein. Er wusste, dass er einen Weg finden würde, sich an den Männern zu rächen, die sein Leben zerstört hatten.
8.
M ichael blickte die gewaltige Festungsmauer hinauf, die fünfzehn Meter breit und zehn Meter hoch war. Wehrhaft und imposant. Zwei bewaffnete Wachen in Militäruniform flankierten das über sechs Meter breite, bogenförmige Tor.
»Das ist der Topkapi-Palast«, sagte Michael.
»Eigentlich ist es ein Museum«, erwiderte KC. »Der Sultan hat seine Koffer schon vor sehr langer Zeit gepackt.«
»Sag mir nicht, dass dies hier der Ort ist, an dem sich deine Karte befindet.«
»Schauen wir uns doch einfach mal um!«
»Willst du das hier wirklich durchziehen?«
KC zog die Augenbrauen hoch und ging auf das gewaltige Bogentor zu. Michael folgte ihr.
Das Großherrliche Tor, der Haupteingang zum Topkapi-Palast, war ein gewaltiges Monument aus Granit und gemeißeltem Marmor. Die Archivolte über dem sechs Meter breiten Portal zierten mit Gold eingelegte, kalligraphische Inschriften in arabischer Sprache sowie die Monogramme der Sultane Mehmet II. und Abdülaziz I. Durch den Mittelgang gelangte man in eine Passage mit hohem Gewölbe; dahinter tat sich der erste Hof des Palastgeländes auf, das mit einer Grundfläche von über 69 Hektar eine Welt für sich war, umgeben von einer Festungsmauer, die auf einer Gesamtlänge von fünf Kilometern zahnartige Zinnen krönten. Die Mauer war durchsetzt von siebenundzwanzig Türmen und umschloss eine Welt, in der die Zeit seit Jahrhunderten stillgestanden hatte.
Topkapi Sarayı – wörtlich übersetzt »Kanonentor-Palast« – war einst der großartigste Palast der Welt gewesen. Als das Osmanische Reich seinen Höhepunkt erlebte, wohnten mehr als viertausend Menschen in seinen Mauern. Nach dem Untergang des Reiches im Jahre 1921 war der Palast per Regierungsbeschluss in ein Museum umgewandelt worden und hatte Ende der Zwanzigerjahre seine Tore der Welt geöffnet.
Aus strategischen Gründen hatte man den Topkapi-Palast auf einem Hügel an der Spitze einer Halbinsel errichtet, an der auf der europäischen Seite Istanbuls die Wasser des Marmarameeres, des Bosporus und des Goldenen Horns zusammenströmten. Dort wurde er auf Geheiß von Sultan Mehmet dem Eroberer im Jahre 1459 auf das Gelände der Byzantinischen Akropolis gebaut. Die erfahrensten Baumeister und Handwerker der Welt kamen von weither.
Weitere Kostenlose Bücher