Der Dieb der Finsternis
noch vertrauen kann. Und da ich es nicht ertragen könnte, sie zu zerstören, da sich ihr Sinn und Zweck eines Tages vielleicht weiseren Männern offenbaren wird, als wir es sind, habe ich sie hinter unserem gemeinsamen Vater versteckt. Er war ein weiser Mann, ein Prophet, der in die Zukunft blicken konnte und dessen Söhne Größe erreicht haben in den Augen unseres gemeinsamen Gottes.
Obwohl unser beider Glauben verschiedene Wege eingeschlagen hat, sind wir einander immer noch verbunden als die Söhne Abrahams.
So sage ich dir Lebewohl, mein Bruder, und freue mich auf unsere Unterhaltungen in der Ewigkeit. Ich bitte dich lediglich, deine Reise noch lange aufzuschieben.
Salaam, mein Bruder,
Bajica
Simon hatte geglaubt, dass der Brief genauere Angaben über den Aufbewahrungsort der Karte mache und keine Rätsel aufgebe, doch als er ihn dreimal hintereinander gelesen hatte, wusste er, dass Letzteres der Fall war.
Obwohl er enttäuscht war, konnte er sich vorstellen, dass es Venue und seine Männer noch mehr frustrierte. Simon hatte durch einen anonymen Hinweis, den seine Dienststelle erhalten hatte, erfahren, dass Venue den Brief zwei Wochen zuvor von einem Schwarzmarkthändler gekauft hatte. Obwohl Simon die Quelle des Hinweises nicht hatte ermitteln können, erwies der Hinweis selbst sich als zutreffend, was die Tatsache bestätigte, dass er jenen Brief in der Hand hielt, den er und KC aus Venues Büro gestohlen hatten.
Simon war zuversichtlich, dass Venue weder hinter die Bedeutung des Briefes gekommen war, noch den genauen Ort kannte, an dem sich die Karte befand; sonst wäre er jetzt bereits auf dem Weg nach Osten gewesen, statt in seinem Büro in Amsterdam zu sitzen.
Denn Simon wusste, dass der Ort, zu dem die Karte führte, Venues letzte, verzweifelte Hoffnung war. Und soweit es die Welt betraf, war es der letzte Ort auf Erden, zu dem ein Mensch wie Venue je Zutritt gewährt werden durfte.
***
Michael und KC verließen die Schatzkammer und gingen an der Bibliothek vorbei zurück zum Tor der Glückseligkeit, geradewegs auf eine Gruppe zu, die im Säulengang des Diwans stand. Plötzlich griff KC nach Michaels Hand und ging zu einem Mann hinüber, der einen blauen Hut trug.
»Hallo«, sagte KC mit einem Lächeln. »Charlie und Elaine Sullivan. Es tut uns leid, dass wir spät dran sind.«
Michael blickte KC an und hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
»Guten Morgen. Mein Name ist Hamer.«
Der Mann trug ein weißes Hemd und eine weiße Leinenhose. Auf seiner langen Nase saß eine Brille mit Metallgestell, und ein buschiger dunkler Oberlippenbart zierte sein Gesicht. Er war Anfang zwanzig und wahrscheinlich Student der Bilkent-Universität in Ankara.
Michael schaute sich die zwölfköpfige Gruppe an, die sich aus Europäern und Amerikanern zusammensetzte.
Hamer ging voraus, und die Gruppe folgte ihm zu einer massiven schwarzen Doppeltür. Hamer ergriff den Ring, der als Klinke fungierte, zog die Türflügel auf und hielt sie geöffnet, damit die Gruppe eintreten konnte.
»Wenn die Mädchen dieses Tor erreichten, das Equipagentor, und zum ersten Mal den Harem betraten«, erzählte Hamer und blickte dabei über die Schulter, »erklärte man ihnen, dass sie nun zum letzten Mal Berührung zur Außenwelt hatten. Selbstverständlich werden wir von dieser Regel heute keinen Gebrauch machen, meine Damen.«
Hamers Witz brachte die sechs Männer in der Gruppe zum Lachen.
»Wir besichtigen den Harem?«, flüsterte Michael KC ins Ohr.
»Ich wusste, dass du das aufregend findest«, witzelte KC.
Michael und KC begaben sich ganz ans Ende der Gruppe, die geschlossen einen langen Korridor hinuntermarschierte und dabei der geübten Ansprache des Fremdenführers lauschte.
»Harem. Schon das Wort beschwört in der westlichen Welt eine Vielzahl von Bildern herauf. Ein Ort, an dem nackte Frauen in Türkischen Bädern orgienhaften Sex mit dem Sultan haben. Frauen, deren einziger Lebenszweck darin besteht, ihren Besitzer sexuell zu befriedigen. Tatsache ist, dass der Harem der Bereich des Palasts war, in dem die Familie des Sultans lebte, und diesen Bereich nannte man das Serail. Obwohl es hier Hunderte schöner Konkubinen gab, ging es viel förmlicher zu, als Sie sich vorstellen können. Es war eine Welt für sich, eine Welt mit einer gestaffelten Hierarchie, in der es eine Schulausbildung gab, Liebe, Intrigen und den Tod.
Der kaiserliche Harem des Topkapi-Palasts setzte sich aus mehreren Einzelhaushalten
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