Der Dieb der Finsternis
lassen.«
»Ich habe nichts davon gesagt, dass du jemanden im Stich lassen sollst«, lenkte Busch ein. »Aber könntest du deine Gefühle in diesem Fall ausnahmsweise mal an der Garderobe abgeben?«
Michael wusste genau, was Busch meinte. Busch war sein bester Freund. Er kannte ihn besser, als er sich selbst kannte. »Ich kann nicht noch einmal ertragen, dass mir das Leben eines Menschen zwischen den Fingern zerrinnt. Das halte ich kein zweites Mal aus, Paul.«
»Liebst du sie?«
Michael atmete tief durch. »Das weiß ich nicht. Aber sie hat dafür gesorgt, dass ich wieder etwas empfinde. Und ich bin nicht bereit, das aufzugeben.«
»Verstehe. Aber du bist hier in einer Welt, die dir fremd ist, die ganz anders ist als irgendeiner der anderen Orte, an denen du warst. Das hier ist Istanbul. Du hast deine Dinger in den USA durchgezogen, in Europa, in Russland, aber nicht hier. Hier denken die Menschen anders, handeln anders, sprechen eine andere Sprache. Nur …«
»Nur was?«, fragte Michael.
»Nur töten werden sie dich hier wie überall sonst auf der Welt.«
16.
M ichael und KC verließen das Four Seasons Hotel durch den Haupteingang und gingen die Straße hinauf. Sie schauten sich nicht um; deshalb sahen sie den gelben Fiat nicht, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte und dessen dunkelhaariger Fahrer jede ihrer Bewegungen beobachtete. Und der Fahrer wiederum sah den großen, blonden Amerikaner nicht, der wiederum ihn beobachtete. Busch hielt sich gezielt zurück. Er stand versteckt in der Hotelhalle. Von dort hatte er einen perfekten Überblick, während er durch das Teleobjektiv seiner digitalen Kamera schaute.
Der Fahrer hatte den Autositz so hoch gefahren, dass sein Kopf fast unter das Wagendach stieß. Busch grinste in sich hinein, als er begriff, dass der Mann seinen Sitz nur deshalb so hoch gestellt hatte, um größer zu erscheinen, als er in Wahrheit war.
Das lange braune Haar hing dem Mann ins Gesicht; hin und wieder warf er es mit der rechten Hand nach hinten. Busch konnte seine unschuldigen Züge sehen – ein äußeres Erscheinungsbild, das so ziemlich das genaue Gegenteil seines Charakters war. Sein gefühlloser Blick war weiterhin auf Michael und KC gerichtet, während er irgendetwas zu den beiden Personen sagte, die mit ihm im Wagen saßen. Sie waren kräftig, längst nicht so zierlich wie Iblis, aber sie hatten das gleiche Ziel im Visier.
Busch schoss Fotos von den Männern und knipste den Wagen und dessen Nummernschild zusätzlich mit einem Weitwinkelobjektiv. Aus seiner Zeit als Polizist wusste er, dass Leuten, die andere Personen beobachteten, so gut wie nie auffiel, wenn sie ihrerseits beobachtet wurden.
Als Michael und KC um die Ecke verschwanden, ließ Iblis den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein. Als der Wagen genau an der Hotelhalle vorüberfuhr, trat Busch rasch ein paar Schritte zurück, sodass der hagere Kerl ihn nicht bemerkte. Er prägte sich Iblis’ Gesichtszüge ein und dachte dabei an Simon und daran, wie er blutend und besinnungslos auf dem weißen Marmorboden der Hotelsuite gelegen hatte.
***
Die Strahlen der Spätnachmittagssonne fielen durch Hunderte bemalter Glasfenster wie Regenbogen, die sich über den Fußboden des gewaltigen Hauptschiffes ergossen, das nahezu achtzig Meter lang war – eine riesige Fläche, auf der die ungefähr dreihundert Touristen beinahe verloren aussahen.
Michael und KC liefen schnellen Schrittes über den Marmorboden. Dabei blickten sie die fünfundfünfzig Meter zur Spitze der Kuppel der Hagia Sophia hinauf.
Die Hagia Sophia war eines der unglaublichsten Bauwerke der Welt und gehörte neben dem Petersdom, der St. Paul’s Cathedral in London und dem Mailänder Dom zu den größten Kathedralen der Welt. Die Kuppel, die eine Spannweite von zweiunddreißig Metern hatte, erhob sich wie schwerelos über der Galerie aus vierzig Bogenfenstern, die dazu beitrugen, dass der farbenprächtige Innenraum vom Licht des Spätnachmittags durchflutet wurde.
Die Hagia Sophia war fast tausend Jahre lang die Hauptkirche des Byzantinischen Reiches und der religiöse Mittelpunkt der Orthodoxie gewesen. Über Jahrhunderte hinweg hatte sich hier eine beeindruckende Sammlung der heiligsten Reliquien des Christentums befunden, zu denen unter anderem ein Stein vom Grab Jesu zählte, Gegenstände, die der Jungfrau Maria gehört hatten, das Totenhemd Jesu und die Gebeine mehrerer Heiliger. Doch alle diese Reliquien waren an Kirchen in
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