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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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besseren Admiral wünschen als einen Mann, der die Meere kennt wie seine Westentasche? Das Osmanische Reich und viele andere Länder – Spanien, England, Frankreich – erlaubte Korsaren, im Namen der Krone als Freibeuter zu segeln, die einen Großteil ihrer Beute behalten durften, weil sie die Versorgungswege der Feinde störten.
    Da Kemal ein sehr erfolgreicher Korsar war, erbeutete er viele Seekarten. Aus diesen und anderen Karten, die sich in Piris Besitz befanden – einige stammten aus der Bibliothek von Alexandria, andere aus der Byzantinischen Bibliothek –, stellte er seine eigene Karte zusammen. Die Sache ist nur, dass die Karte des Piri Reis, die im Topkapi-Palast ausgestellt ist und die man 1929 auf dem Palastgelände wiedergefunden hat, lediglich ein Teil der echten Piri-Reis-Karte ist. Ungefähr die Hälfte.«
    »Und?«, fragte Busch.
    »Er hat seine Karte mit sehr viel Mühe und Liebe angefertigt, und er hat sie nicht für Geld gezeichnet, oder weil man ihn dazu angestellt oder der Sultan es ihm befohlen hatte, sondern aus purer Leidenschaft. Er hat sie aus neuen, alten und historischen Karten zusammengestellt – manche behaupten, sogar aus Karten, um die sich Mythen rankten. Er hat seine Karte – die vollständigste ihrer Zeit – auf eine große Gazellenhaut gezeichnet. Mehr als hundert Jahre später gab es noch immer nichts Gleichwertiges. Er hat nicht nur die Gebirgszüge der Anden und des Himalaja dargestellt, sondern auch die größten Flüsse der Welt, und er hat das gesamte Dokument mit teilweise historischen, teilweise sagenhaften Vermerken versehen. Es gab Darstellungen von Heiligen Stätten und von Orten der Finsternis, von Tieren aus der Mythenwelt, von Kulturvölkern und Wilden. Es war ein Meisterwerk von historischer Bedeutung.
    Dann aber wurde ihm bewusst, dass seine Karte den Weg zu den bislang unerforschten Meeren und Flüssen öffnen würde, sodass man Dinge entdecken würde, die isoliert lebende Kulturen vor fremden Eroberern als Heiligtümer verborgen hatten. Daraufhin zerriss Piri die Karte in zwei Teile. Den westlichen Teil schenkte er 1517 Sultan Süleyman I. Obwohl dieser Teil in der Mitte Afrikas endete – von der östlichen Hälfte behauptete man, sie sei zerstört worden –, galt die Karte als unvergleichliches Geschenk und wurde als ein sichtbares Zeichen für die Vorherrschaft des Osmanischen Reiches betrachtet, sowohl zu Land als auch auf den Weltmeeren.
    Piri behielt die andere Hälfte. Je älter er wurde, desto größer wurde seine Furcht, die Karte könne in die falschen Hände fallen. Deshalb gab er den östlichen Teil, den asiatischen Teil, seinem Freund, dem Großwesir Mehmet, zur Aufbewahrung.
    Wie ich Michael bereits erzählt habe, waren die meisten Menschen, die im Harem lebten, und viele der Wesire des Sultans ursprünglich als Gefangene oder als Sklaven aus christlichen Ländern nach Konstantinopel gekommen. Bei ihrer Ankunft im Palast wurden sie gezwungen, zum Islam überzutreten. Obwohl alle den Koran studierten und an den Gebeten teilnahmen, hieß das noch lange nicht, dass sie die religiösen Überzeugungen aufgaben, die sie in ihren Herzen trugen. Stellt euch vor, ihr würdet gefangen genommen und gezwungen, zu einer fremden Religion zu konvertieren. Würdet ihr das bereitwillig tun, den neuen Glauben mit Freuden akzeptieren und alles aufgeben, was ihr jemals gelernt habt?
    So entwickelte sich eine geheime Solidarität zwischen christlichen Eunuchen, Konkubinen und Wesiren. Der oberste schwarze Palasteunuch, ein Kızlar Agˇası namens Attawa, ließ mit Hilfe von Mehmet im Keller des Harems eine Kapelle errichten, die man durch die geheimen Tunnel und Gänge der Eunuchen erreichte, die in den Palast hinein- und herausführten. Es war eine Täuschung, die man mit dem Tod bestraft hätte, wäre sie herausgekommen, doch für die wahren Anhänger ihres Glaubens war es das Risiko wert.
    Die Kapelle war klein und hatte einen Altar, der die Bedürfnisse der Christen und Juden stillte, die man nicht nur aus ihren Familien und ihrer Heimat gerissen hatte, sondern auch aus ihrem Glauben. Sie lag versteckt am Rand einer Zisterne, die sich unter dem zweiten und dritten Innenhof des Topkapi-Palasts befand, einem Relikt aus den Byzantinischen Zeiten.
    Nach dem Tod von Sultan Selim II. mussten Entscheidungen getroffen werden. Mehmet wurde älter, und beim obersten Palasteunuchen kam es früher oder später zu einem Machtwechsel. Also beschlossen Mehmet und Attawa,

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