Der Dieb der Finsternis
zu schaffen machte und über die sie sich noch unterhalten mussten: KCs Sicherheit. Michael bezweifelte nicht, dass sie wusste, was sie tat; andernfalls hätte Simon nie mit ihr zusammengearbeitet. Doch Michael wusste besser als irgendjemand sonst, dass überall Gefahren lauerten. Es gab unerwartete Wendungen, die einen das Leben kosten konnten, bevor man auch nur begriff, was geschah. Bei ihm war es noch jedes Mal gut gegangen, aber würde KC auch so viel Glück haben, wenn es hart auf hart ging?
Michael verdrängte diese Gedanken. Wenn sie die Karte an sich bringen und Cindy und Simon retten wollten, musste er hellwach sein. Seine Sorgen um KC, seine Ängste und Gefühle musste er erst einmal beiseiteschieben und sich ganz auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Nur so konnten sie Erfolg haben, nur so konnten sie überleben.
Michael ging vom Balkon in die Suite und über die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Er zog sich aus, legte sich aufs Bett und zog seine Aktenmappe heran, die verschiedene Dokumente enthielt. Sie gehörten Simon und hatten in seiner Reisetasche gesteckt, doch Michael hatte sie bisher noch nicht gelesen, nur kurz überflogen. Dabei waren ihm gewisse Worte ins Auge gesprungen, sodass er es für das Beste gehalten hatte, den Inhalt nicht sofort mit Busch und KC zu teilen. Simon hatte sich ausweichend geäußert, als Michael ihm Fragen über die Karte gestellt hatte und darüber, wohin sie führte. Dafür musste es einen wichtigen Grund geben. Deshalb hatte Michael es für das Vernünftigste gehalten, den Inhalt dieser Mappe erst einmal in aller Ruhe allein zu lesen.
Er schlug die Akte auf und blickte auf eine Zeichnung, die einen türkischen Korsaren zeigte, der einen Fuß auf die Reling seines Schiffes gestellt hatte. Der Wind wehte ihm das lange dunkle Haar aus der Stirn; ein paar Strähnen hatten sich in seinem Bart verfangen. Er trug eine dunkelrote Hose, die vom Wind aufgebauscht war und von einer tiefblauen Schärpe zusammengehalten wurde. Um seine Schultern war ein langes dunkles Gewand geschlungen, das in der starken Meerbrise wehte. In der Hand hielt er einen orientalischen Krummsäbel.
Kemal Reis war ein türkischer Korsar gewesen, der zu einem geachteten Admiral der osmanischen Flotte aufgestiegen war. Sein wirklicher Name lautete Ahmed Kemaleddin aus Gelibolu. Vierzig Jahre lang segelte er um die Welt und kaperte Schiffe im Mittelmeer und im Schwarzen Meer, im Indischen Ozean und im Chinesischen Meer. Es waren Unternehmungen, durch die er zu Wohlstand und großer Macht gelangte.
Hinter der Zeichnung klemmten Papiere. Michael zog die Büroklammer ab und entdeckte die Fotokopie eines Briefes. Er war in einer ihm fremden Sprache geschrieben, doch es lag eine englische Übersetzung bei:
Der beiliegende Eintrag ins Logbuch wurde von Bora Celil verfasst, dem Kapitän des Führungsschiffes der Flotte von Kemal Reis.
16. April 1511, nach dem Julianischen Kalender.
Als wir den Ozean Indiens besegelten, stießen wir auf eine chinesische Dschunke, ein gewaltiges Schiff mit einer Länge von über fünfundsiebzig Metern, dessen Segel zerrissen im Wind flatterten. Die Chinesen sind nicht dafür bekannt, dass sie die Weltmeere bereisen; deshalb war die Mannschaft in heller Aufregung. Kemal Reis, ich selbst und dreißig weitere Männer gingen an Bord der Dschunke. Wir fanden die gesamte Besatzung tot vor. Es sah aus, als wäre das Schiff vom Teufel heimgesucht worden. Die Männer der chinesischen Mannschaft hatten sich selbst die Augen herausgerissen, hatten sich die Gliedmaßen abgetrennt und sich Dolche ins Herz gestoßen. Noch im Tod umklammerten sie die Dolchgriffe mit blutverschmierten Fäusten. Als Korsaren sind wir dem Tod schon oft begegnet und haben ihn mit eigener Hand häufiger über Unschuldige gebracht, als es Sterne am Himmel gibt, sodass der Tod für uns so selbstverständlich ist wie das Atmen, doch wurde uns bei dem Anblick, der sich uns hier bot, ganz sonderbar ums Herz. Dies hier war nicht von Menschenhand verübt worden.
Kemal und ich befahlen der Mannschaft, Wache zu stehen. Dann machten wir uns mit dreien unserer Männer auf den Weg ins Unterdeck des Schiffes. Wir stellten fest, das sämtliche Laternen brannten und die Lebensmittelvorräte unberührt waren, doch ebenso wie die Besatzung war auch das Vieh tot: Die Tiere waren aufeinander losgegangen. Aus den Quartieren drang ein überwältigender Gestank, der von den verwesenden Körpern der Chinesen herrührte, die
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