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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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unter den gleichen Umständen gestorben waren wie ihre Landsleute auf dem Oberdeck – alle durch die eigene Hand.
    Kemal fand das Kapitänsquartier am Heck des Schiffes. Der chinesische Kapitän war ein großer Mann, der über vier Ellen maß. Er lag auf dem Boden, und seine Hände umklammerten immer noch das Schwert, mit dem er sich selbst den Kopf abgeschlagen hatte, der in einer Ecke des Raumes lag. Sein langes schwarzes Haar war von angetrocknetem Blut verkrustet, seine halb geöffneten Augen waren milchig weiß, und sein Mund stand weit offen.
    Wir haben uns nicht lange bei der Leiche aufgehalten, sondern uns dem Kartentisch zugewandt. Da lagen Hunderte von Karten, alle ordentlich gestapelt auf Regalen unter der Arbeitsplatte. Kemal befahl uns, die Karten zusammenzurollen, so schnell wir konnten, und sah sich derweil gebannt eine Karte an, die ausgebreitet auf dem Tisch lag. Sie war sehr groß und bestach durch exquisite Details. Wir hatten noch nie eine Karte gesehen, die so ausgefeilt und umfassend war.
    Als wir so dastanden, nachdem unsere Männer den Raum mit den anderen Karten verlassen hatten, meinten wir plötzlich, Stimmen zu hören. Wir sahen uns um, konnten aber niemanden sehen. Deshalb schrieben wir das Ganze unserer geistigen Verfassung zu, die durch die schauerlichen Dinge, derer wir ansichtig geworden waren, verwirrt schien.
    Dann aber vernahmen wir ein leises Summen. Wir zogen unsere Krummsäbel, ergriffen eine Öllampe, die an der Wand hing, verließen die Kabine und folgten dem Geräusch in den vorderen Frachtbereich der Dschunke, wo wir an eine verschlossene Tür gelangten. Hadrid zerschmetterte die Schlösser mit wenigen Schlägen seines Hammers.
    Als Kemal vorsichtig die Tür öffnete, hielt er die Laterne hoch und wurde fast geblendet. Der Raum war voller Gold. Man sah an keiner Stelle mehr den Fußboden. Er verschwand unter Bergen von Edelmetall. Dazwischen lagen Juwelen verstreut, Diamanten, Rubine und Saphire, erlesener und größer, als wir es jemals für möglich gehalten hätten. In der äußersten Ecke lagen stapelweise Bücher und Schriftrollen, uraltes Pergament, beschriebene Tierhäute, sogar Steine, in die Worte geritzt waren, in Sprachen, die keiner von uns kannte.
    Und in der Mitte saß ein Mann. Er war kahlköpfig und von unvorstellbarem Alter, obwohl sein Gesicht glatt war und keine Falte aufwies, ganz so, als hätte er nie gelächelt oder die Stirn gerunzelt, weil er nie etwas empfunden hatte. Abgesehen von einer einzigen Narbe, die sich über die rechte Wange zog, hatte die Zeit seiner Haut nichts anhaben können.
    Er saß mit überkreuzten Beinen auf einem großen Samtkissen, umfasste mit den Händen einen dunklen Stab, der auf seinem Schoß lag, und summte dabei leise vor sich hin. Seine Haut besaß die Farbe von trübem Tee, und er hatte kein einziges Haar am Körper. Er war weder Chinese noch Inder, auch kein Türke, Europäer oder Afrikaner, und aus dem Mittleren Osten stammte er ebenfalls nicht. Es sah aus, als wären die Züge der gesamten Menschheit in ihm vereint.
    Der Mann war ruhig, der Inbegriff inneren Friedens. Langsam öffnete er die Augen und blickte uns an, studierte unsere Gesichter und unsere Kleidung. Er schien den Schatz nicht zu beschützen, denn er besaß keine Waffe und zeigte keinerlei Anzeichen von Angriffslust. Wir wussten nicht, ob wir ein Mitglied der Mannschaft vor uns hatten oder einen Gefangenen oder einen Wächter. Der Mann war schlicht gekleidet und trug derbe Sachen aus Wolle und Schuhe aus Holz. Als er sich erhob, konnten wir den Stab in seiner Hand genauer sehen. Er war anderthalb Ellen lang und aus einem unnatürlich dunklen Holz. Um den Stab herum wanden sich zwei Schlangen, die sich auf ganzer Länge an dem Stab emporwanden und einander am oberen Ende mit weit aufgerissenen Mäulern anblitzten. Ihre Augen waren aus blutroten Rubinen, die im Licht des Feuers funkelten, und ihre Silberzähne flimmerten, als wollten sie die Fänge in den Hals des Gegenübers schlagen.
    Kemal fragte den Mann, wer er sei, erhielt die Antwort jedoch in einem Dialekt, den wir nie zuvor gehört hatten. Dann begann der Mann zu sprechen, bedächtig und überlegt, wobei seine Sprache sich mit jedem Satz zu verändern schien. Plötzlich hellte die Miene unseres ersten Offiziers Hadrid sich auf, weil er die Sprache verstand. Hadrid Lovlais gehörte seit fünf Jahren zu unserer Mannschaft. Er war ein hochgewachsener, dunkelhäutiger, wilder Krieger, der aus dem

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