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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Panoramablick und das ganze behaglich eingerichtete Arbeitszimmer, und am Ende schwebte der Radiergummi in einem beunruhigenden Meer von Weiß.
    Ich litt unter dem, was passierte, konnte es aber nicht verhindern. Also trieb ich mich herum und sah zu, wie die Wohnung sich Stück für Stück in nichts auflöste– wie eine Biene, die dabei zusieht, wenn ihr Korb zerstört wird. An der Wand über dem Schreibtisch meiner Mutter (zwischen zahlreichen Urlaubsbildern und alten Schulfotos) hing ein Schwarzweißfoto aus ihrer Zeit als Model, das im Central Park aufgenommen worden war. Es war ein sehr scharfer Abzug, und noch die winzigsten Details waren mit beinahe schmerzhafter Deutlichkeit zu erkennen: ihre Sommersprossen, der grobe Stoff ihres Mantels, die Windpockennarbe über ihrer linken Augenbraue. Fröhlich schaute sie hinaus in das verwirrende Durcheinander im Wohnzimmer, wo mein Dad ihre Papiere und Malsachen wegwarf und ihre Bücher für den Secondhand-Buchladen verpackte. Eine Szene, die sie sich wahrscheinlich nie hatte träumen lassen, zumindest hoffe ich das.
    XXIII
    Meine letzten Tage bei den Barbours vergingen wie im Fluge, so schnell, dass ich mich kaum an sie erinnern kann, abgesehen von einer hastigen Wasch- und Reinigungsaktion in letzter Minute und mehreren hektischen Expeditionen zu der Weinhandlung auf der Lexington Avenue, um Kartons zu holen. Mit schwarzem Filzstift schrieb ich die Adresse meiner exotisch klingenden neuen Heimat darauf:
    Theodore Decker c/o Xandra Terrell
    6219 Desert End Road
    Las Vegas, NV
    Niedergeschlagen standen Andy und ich da und betrachteten die beschrifteten Kartons im seinem Zimmer. » Als ob du auf einen anderen Planeten umziehst « , stellte er fest.
    » Mehr oder weniger. «
    » Nein, im Ernst. Diese Adresse. Als wäre es eine Bergbaukolonie auf dem Jupiter. Ich frage mich, wie deine Schule aussehen wird. «
    » Weiß der Himmel. «
    » Mann, vielleicht ist es eine von denen, über die man in der Zeitung liest. Banden. Metalldetektoren. « Andy war auf unserer (angeblich) aufgeklärten und fortschrittlichen Schule so sehr misshandelt worden, dass eine staatliche Schule in seinen Augen auf einer Ebene mit dem Strafvollzugssystem stand. » Was machst du dann? «
    » Den Schädel rasieren, schätze ich. Und mir ein Tattoo stechen lassen. « Es gefiel mir, dass er nicht versuchte, munter oder fröhlich über den Umzug zu reden, anders als Mrs. Swanson oder Dave (der offensichtlich erleichtert war, weil er nicht länger mit meinen Großeltern würde verhandeln müssen). Niemand sonst in der Park Avenue redete viel über meinen Abschied, aber ich sah an Mrs. Barbours angespanntem Gesichtsausdruck, wenn von meinem Vater und seiner » Freundin « die Rede war, dass ich mir das alles nicht komplett einbildete. Außerdem erschien mir die Zukunft mit Dad und Xandra gar nicht schlecht oder beängstigend, sondern vielmehr unfassbar wie ein schwarzer Tintenklecks über dem Horizont.
    XXIV
    » Na ja, ein Tapetenwechsel wird dir vielleicht guttun « , meinte Hobie, als ich ihn vor meiner Abreise noch einmal besuchte. » Selbst wenn die Tapete keine ist, die du dir ausgesucht hättest. « Wir aßen zur Abwechslung im Esszimmer, am hinteren Ende eines Tisches, der lang genug für zwölf Personen war. Silberkrüge und Ornamente erstreckten sich in opulente Dunkelheit. Trotzdem kam es mir vor wie der letzte Abend damals in unserer alten Wohnung an der 7th Avenue, als meine Mutter, mein Vater und ich mit chinesischem Essen aus dem Take-away auf den Umzugskartons saßen.
    Ich sagte nichts. Mir war elend zumute, und die Entschlossenheit, im Geheimen zu leiden, machte mich unkommunikativ. In der Beklommenheit der vergangenen Woche, während die Wohnung leergeräumt und die Sachen meiner Mutter zusammengelegt, in Kisten verpackt und zum Verkauf weggekarrt wurden, hatte ich mich nach der Dunkelheit und der Ruhe in Hobies Haus gesehnt, nach den vollgestopften Zimmern und dem Geruch von altem Holz, Teeblättern und Tabakrauch, Schalen mit Orangen auf dem Sideboard und Kerzenleuchtern, umrankt von geschmolzenem Wachs.
    » Ich meine, deine Mutter… « Er machte eine taktvolle Pause. » Es wird ein neuer Anfang sein. «
    Ich betrachtete meinen Teller. Er hatte ein Lamm-Curry mit einer zitronengelben Sauce gemacht, und es schmeckte mehr französisch als indisch.
    » Du hast doch keine Angst, oder? «
    Ich hob den Kopf. » Angst wovor? «
    » Davor, mit ihm zusammenzuleben. «
    Ich spähte in die

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