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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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aßen ganz friedlich zusammen Obstsalat und guckten uns Filme an. Aber wenn sie sich über mich ärgerte, hatte sie die Gewohnheit, auf fast alles, was ich sagte, in eisigem Ton mit » anscheinend « zu antworten, sodass ich mir ziemlich dämlich vorkam.
    » Äh, ich kann den Öffner nicht finden. «
    » Anscheinend. «
    » Heute Abend gibt’s eine Mondfinsternis. «
    » Anscheinend. «
    » Sieh mal, da kommen Funken aus der Steckdose. «
    » Anscheinend. «
    Xandra arbeitete abends. Meistens schwirrte sie gegen halb vier nachmittags ab, in ihrer kurvenbetonenden Arbeitsuniform: schwarzes Jackett und schwarze Hose aus einem elastischen, eng anliegenden Stoff und die Bluse aufgeknöpft bis zu ihrem sommersprossigen Schlüsselbein. Auf dem Namensschild an ihrem Blazer stand in großen Lettern XANDRA und darunter Florida. An dem Abend, als wir in New York zusammen essen gegangen waren, hatte sie mir erzählt, sie versuche ins Immobiliengeschäft zu kommen, aber in Wirklichkeit war sie, wie ich bald erfuhr, die Geschäftsführerin einer Bar namens » Nickels « in einem Casino am Strip. Manchmal kam sie mit Plastiktellern voller Barsnacks nach Hause, die in Klarsichtfolie gewickelt waren– Fleischbällchen und Chicken Teriyaki–, und dann saßen sie und mein Dad vor dem Fernseher und aßen bei abgestelltem Ton.
    Mit ihnen zu wohnen war, als teile ich mir eine Wohnung mit Leuten, mit denen ich mich nicht besonders gut verstand. Wenn sie zu Hause waren, blieb ich in meinem Zimmer und hielt die Tür geschlossen. Und wenn sie ausgingen– was meistens der Fall war–, durchstöberte ich die hinteren Bereiche des Hauses und versuchte mich an den offenen Grundriss zu gewöhnen. In vielen Zimmern standen keine oder fast keine Möbel, und in dem offenen Raum und der vorhanglosen Helligkeit– nichts als kahle Teppichböden und parallele Flächen– fühlte ich mich irgendwie ohne Anker.
    Dennoch war es eine Erleichterung, mich nicht ständig entblößt und wie auf einer Bühne zu fühlen, so wie bei den Barbours. Der Himmel war von einem satten, besinnungslosen, niemals endenden Blau, die Verheißung einer lächerlichen Glorie, die in Wirklichkeit nicht da war. Niemanden kümmerte es, dass ich nie die Kleider wechselte und nicht zur Therapie ging. Ich konnte nach Lust und Laune herumalbern, den ganzen Vormittag im Bett verbringen und mir fünf Robert-Mitchum-Filme hintereinander anschauen, wenn mir danach war.
    Dad und Xandra hielten ihre Schlafzimmertür blöderweise verschlossen, denn dort bewahrte Xandra ihren Laptop auf, den ich nur benutzen durfte, wenn sie zu Hause war und ihn für mich ins Wohnzimmer herunterholte. Beim Herumstöbern in ihrer Abwesenheit fand ich Immobilien-Flyer, neue, noch im Karton verpackte Weingläser, einen Stapel von alten TV Guides und einen Karton mit zerfledderten Billigtaschenbüchern: Deine Mondzeichen, Die South-Beach-Diät, Poker Tells – Psychologie und Körpersprache und Lovers and Players von Jackie Collins.
    Die Häuser ringsum standen leer– es gab keine Nachbarn. Fünf oder sechs Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite, parkte ein alter Pontiac am Bordstein. Er gehörte einer müde aussehenden Frau mit großen Titten und fransigem Haar, die ich manchmal spätnachmittags mit einer Packung Zigaretten in der Hand barfuß vor ihrem Haus stehen und mit einem Handy telefonieren sah. Für mich hieß sie immer » Playa « , denn als ich sie das erste Mal sah, trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift NICHT DAS PLAYA , SONDERN DAS SPIEL IST SCHULD . Abgesehen von ihr, von Playa, war der einzige lebende Mensch, den ich in unserer Straße gesehen hatte, ein dickbäuchiger Mann in einem schwarzen Sporthemd ganz hinten am Ende der Sackgasse, wo er eine Mülltonne an den Straßenrand rollte (obwohl ich ihm hätte sagen können, dass in unserer Straße kein Müll abgeholt wurde. Wenn es Zeit wurde, den Abfall wegzubringen, musste ich mich in Xandras Auftrag mit dem Müllsack hinausschleichen und ihn ein paar Häuser weiter in den Container vor der stillgelegten Baustelle werfen). Abends war es in der Straße stockdunkel, mal abgesehen von Playas und unserem Haus. Das Gefühl der Isolation erinnerte mich an ein Buch über Pionierkinder in der Prärie von Nebraska, das wir in der dritten Klasse gelesen hatten, nur dass ich weder Geschwister noch freundliche Stalltiere noch Ma und Pa hatte.
    Mit Abstand das Schlimmste aber war, dass ich mitten im Nirgendwo festsaß: Es gab weder Kinos noch

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