Der Distelfink
nach Hause, die wir nicht haben wollten und uns nicht leisten konnten, zum Beispiel krokolederne Manolo Blahniks für meine Mutter (die hohe Absätze nicht ausstehen konnte), aber noch nicht mal in der richtigen Größe. Er schleppte Berge von Papier aus dem Büro nach Hause und saß dann bis Mitternacht da, trank Eiskaffee und tippte Zahlen in den Taschenrechner, während der Schweiß an ihm herunterlief, als hätte er gerade vierzig Minuten auf dem Stepper trainiert. Oder er machte eine Riesenwelle wegen irgendeiner Party weit drüben in Brooklyn ( » Was soll das heißen, › vielleicht sollte ich nicht hingehen ‹ ? Scheiße, soll ich vielleicht leben wie ein Einsiedler? Willst du das damit sagen? « ), und wenn er meine Mutter dann dorthin mitgeschleppt hatte, stürmte er zehn Minuten später wieder hinaus, nachdem er jemanden beleidigt oder sich öffentlich über ihn lustig gemacht hatte.
Das hier, mit den Tabletten, war eine andere, liebenswürdigere Energie: eine Kombination aus Trägheit und Klarheit, verträumt, albern, schwebend. Sein Gang war lockerer. Er schlief mehr, nickte behaglich ein, verlor den Faden seiner Argumentation, schlenderte barfuß und mit halb offenem Bademantel herum. Mit seinem leutseligen Gefluche, seiner nachlässigen Rasur, der entspannten Art, wie er um die Zigarette in seinem Mundwinkel herumredete, war es fast so, als spielte er eine Rolle, irgendeinen coolen Typen aus einem film noir der fünfziger Jahre oder vielleicht aus Ocean’s Eleven, einen trägen, übersättigten Gangster, der nicht viel zu verlieren hatte. Aber mitten in dieser neuen Lässigkeit schimmerte immer noch dieser irre und leicht heroische Ausdruck von schuljungenhafter Unverschämtheit, was umso anrührender war, als er auf den Herbst des Lebens zuging, halb zerstört und fahrlässig gegen sich selbst.
In dem Haus in der Desert End Road, in dem es das superteure Kabelfernseh-Abonnement gab, das meine Mutter für uns immer abgelehnt hatte, schloss er die Jalousien vor dem grellen Sonnenlicht, saß mit glasigem Blick wie ein Opium-Junkie rauchend vor dem Fernseher und sah mit abgeschaltetem Ton den Sportkanal, keine spezielle Sportart, sondern alles, was gerade gesendet wurde: Kricket, Jai Alai, Badminton, Krocket. Die Luft war zu kalt und hatte einen abgestandenen Kühlschrankgeruch. Stundenlang saß er bewegungslos da, der Rauchschnörkel seiner Viceroy schwebte zur Decke wie ein Weihrauchfädchen, und ebenso gut hätte er in die Betrachtung des Buddha, des Dharma und des Sangha versunken sein können statt in die Ranglisten der nationalen Golf-Turniere oder was es da sonst geben mochte.
Nicht ganz klar war mir, ob mein Dad einen Job hatte– und wenn ja, was für einen. Das Telefon klingelte zu allen Zeiten, bei Tag und bei Nacht. Mein Dad ging damit in den Flur, wandte mir den Rücken zu, lehnte sich mit dem Ellenbogen an die Wand und schaute auf den Teppich, während er sprach, und seine Körperhaltung ließ an einen Trainer am Ende eines harten Spiels denken. Meistens redete er mit gedämpfter Stimme, aber auch wenn er es nicht tat, war sein Beitrag zum Gespräch schwer zu verstehen: Die Rede war von Vigs, Siegerwetten, klaren Favoriten, Straight-ups und Spreads. Oft war er unterwegs, ohne zu sagen, wohin, und nicht selten kamen er und Xandra nachts nicht nach Hause. » Wir kriegen oft Gratiszimmer im MGM Grand « , erklärte er, rieb sich die Augen und ließ sich mit einem Seufzer der Erschöpfung in die Sofakissen zurückfallen– und wieder hatte ich das Gefühl, er spiele eine Rolle: den schwermütigen Playboy, ein Überbleibsel aus den Achtzigern, schnell gelangweilt. » Du hast hoffentlich nichts dagegen. Wenn sie Spätschicht hat, ist es für uns einfacher, am Strip zu pennen. «
VIII
» Was sind das für Papiere, die hier überall liegen? « , fragte ich Xandra eines Tages, als sie in der Küche ihren zahnweißen Diät-Drink anrührte. Ich war verwirrt von den vorgedruckten Karten, die ich überall im Haus fand: Gitterraster, vollgeschrieben mit endlos monotonen Reihen von Zahlen. Sie sahen irgendwie wissenschaftlich aus wie DNA -Sequenzen oder Spionagemitteilungen im binären Code.
Sie schaltete den Mixer aus und schnippte sich eine Haarsträhne aus den Augen. » Wie bitte? «
» Diese Arbeitsblätter oder was immer das ist. «
» Bakka- rat ! « , sagte Xandra. Sie rollte das r und machte einen raffinierten kleinen Schnalzer mit den Fingern.
» Oh « , sagte ich nach einer
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