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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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mittelmäßigen Kinder einheimischer Immobilienmakler und Autohändler zu Cheerleadern und Klassensprechern gewählt wurden und die unangefochtene Elite der Schule bildeten.
    Die Septembertage waren klar und schön, und im Laufe des Monats wich das bösartige Gleißen einer Art Lumineszenz, staubig und golden. Manchmal aß ich meinen Lunch am spanischen Tisch, um mein Spanisch zu üben, manchmal auch am deutschen Tisch; ich sprach zwar kein Deutsch, aber ein paar der Kinder aus Deutsch II – Kinder von Managern der Deutschen Bank und der Lufthansa– waren in New York aufgewachsen. Unter all meinen Fächern war Englisch das einzige, auf das ich mich freute, auch wenn es mich verstörte, wie viele meiner Klassenkameraden Thoreau nicht mochten oder sogar über ihn herzogen, als sei er (der behauptete, niemals etwas Wertvolles von einem alten Menschen gelernt zu haben) ein Feind und kein Freund. Seine Verachtung gegen den Kommerz (die ich belebend empfand) verärgerte viele der lautstärkeren Schüler im Leistungskurs Englisch. » Yeah, klar « , schrie ein unangenehmer Junge mit gegeltem und zu steifen Stacheln gekämmten Haar, der aussah wie eine Figur aus Dragonball Z, » das wäre vielleicht ’ne Welt, wenn alle einfach aussteigen und irgendwo im Wald rumschmollen wollten… «
    » Ich, ich, ich « , winselte eine Stimme von hinten.
    » Antisozial ist das « , rief ein großmäuliges Mädchen eifrig in das Gelächter, das nach dem Winseln einsetzte. Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und drehte sich nach der Lehrerin um (einer kraftlosen, langgliedrigen Frau namens Mrs. Spear, die immer braune Sandalen und erdfarbene Kleider trug und aussah, als leide sie unter starken Depressionen). » Thoreau sitzt immer nur auf dem Hintern, und uns erzählt er, wie gut er es hat… «
    » … weil « , fuhr Dragonball-Z-Boy fort und wurde genussvoll immer lauter, » wenn alle aussteigen, wie er es sagt? Was für eine Gesellschaft hätten wir, wenn es nur Leute wie ihn gäbe? Dann hätten wir keine Krankenhäuser und so was. Wir hätten keine Straßen. «
    » Idiot « , murmelte eine mir willkommene Stimme– gerade so laut, dass jeder ringsherum es hören konnte.
    Ich drehte mich nach rechts und wollte sehen, wer das gewesen war: der nach Burnout aussehende Junge auf der anderen Seite des Ganges. Er hing schlaff auf seinem Stuhl und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Als er sah, dass ich ihn anschaute, zog er eine überraschend lebhafte Augenbraue hoch, als wollte er fragen: Was sagt man zu diesen bescheuerten Volltrotteln?
    » Hat dahinten jemand etwas zu sagen? « , fragte Mrs. Spear.
    » Als ob Thoreau sich einen Dreck für Straßen interessiert hätte « , sagte der Burnout-Junge.
    » Thoreau war der erste Umweltschützer « , sagte Mrs. Spear.
    » Und der erste Vegetarier « , sagte ein Mädchen ganz hinten.
    » Das passt « , sagte jemand. » Mr. Knackig-frisch. «
    » Ihr kapiert alle nicht, was ich meine « , erklärte Dragonball-Z-Boy aufgeregt. » Jemand muss Straßen bauen, statt den ganzen Tag im Wald rumzusitzen und den Ameisen und Mücken zuzuschauen. Das nennt man Zivilisation. «
    Mein Gangnachbar stieß ein scharfes, verächtliches Lachen aus. Er war bleich und dünn und nicht sehr sauber. Sein strähniges dunkles Haar fiel ihm in die Augen, und er hatte die ungesund fahle Haut eines Straßenjungen, schwielige Hände und schwarz geränderte Fingernägel, die bis an die Wurzel abgekaut waren. Er wirkte nicht wie die Skater-Ratten mit den glänzenden Haaren und der Skifahrer-Bräune in meiner Schule an der Upper West Side, Punks, deren Väter CEO s und Park-Avenue-Chirurgen waren, sondern wie ein Junge, der durchaus irgendwo auf dem Gehweg sitzen könnte, mit einem streunenden Hund an einem Strick.
    » Nun, wollen wir uns einigen dieser Fragen zuwenden? Ich möchte, dass alle zu Seite fünfzehn zurückblättern « , sagte Mrs. Spear. » Wo Thoreau von seinem Lebensexperiment berichtet. «
    » Was denn für ein Experiment? « , fragte Dragonball Z. » Wie unterscheidet sich einer, der im Wald lebt wie er, von einem Höhlenmenschen? «
    Der dunkelhaarige Junge runzelte die Stirn und sackte noch weiter zusammen. Er erinnerte mich an die obdachlos aussehenden Kids, die an St. Mark’s Place herumstanden, Zigaretten herumgehen ließen, ihre Narben verglichen und um Kleingeld bettelten: die gleichen zerrissenen Kleider und dürren weißen Arme, die gleichen verdrehten, schwarzen Lederarmbänder am Handgelenk.

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