Der Distelfink
Bibliotheken, nicht mal einen Laden an der Ecke. » Gibt’s hier keinen Bus oder so was? « , fragte ich Xandra eines Abends in der Küche, als sie das abendliche Plastiktablett mit Atomic Chicken Wings und Blue Cheese Dip auswickelte.
» Bus? « Xandra leckte sich einen Klecks Barbecue-Sauce vom Finger.
» Habt ihr hier keinen Personennahverkehr? «
» Nein. «
» Was machen die Leute denn dann? «
Xandra legte den Kopf schräg. » Sie fahren? « , sagte sie, als wäre ich ein Spasti, der noch nie was von Autos gehört hatte.
Aber eins muss man sagen: Es gab einen Pool. Am ersten Tag hatte ich mich innerhalb von einer Stunde ziegelrot verbrannt und eine schlaflose Nacht in der kratzigen neuen Bettwäsche verbracht. Danach ging ich immer erst nach draußen, wenn die Sonne unterging. Die Abenddämmerungen waren glutvoll und melodramatisch, mächtige Streifen in Orange und Karmesin und dem Zinnoberrot aus Lawrence von Arabien, und die Nacht fiel dunkel und hart herab wie eine zugeschlagene Tür. Xandras Hund Popper, der die meiste Zeit in einem braunen Plastikiglu an der Schattenseite des Zauns wohnte, rannte kläffend am Beckenrand hin und her, während ich auf dem Rücken im Wasser trieb und versuchte, in den verwirrenden weißen Sternenwolken die Sternbildern zu entdecken, die ich kannte: Lyra, die Königin Kassiopeia, der peitschenartige Skorpion mit dem Doppelstachel am Schwanz– all die freundlichen Kindheitsmuster, die mich unter den im Dunkeln leuchtenden Klebesternen aus dem Planetarium an meiner Zimmerdecke in New York funkelnd in den Schlaf begleitet hatten. Jetzt, in dieser Verwandlung– kalt und prachtvoll wie Gottheiten, die ihre Verkleidung abgeworfen hatten–, schien es, als wären sie durch das Dach und ins Firmament geflogen, in ihr wahres himmlisches Heim.
X
Die Schule fing in der letzten Augustwoche an. Von Weitem erinnerte mich der umzäunte Komplex der lang gestreckten, flachen, sandfarbenen Gebäude, die mit überdachten Gehwegen verbunden waren, an einen Minimum-Sicherheitstrakt. Aber kaum war ich durch die Türen getreten, schubsten mich die bunten Plakate und hallenden Korridore zurück in einen altbekannten Traum von Schule: überfüllte Treppen, summende Leuchtstofflampen, ein Biologieraum mit einem Leguan in einem klaviergroßen Terrarium, spindgesäumte Flure, die mir so vertraut waren wie die Kulissen einer oft gesehenen Fernsehserie. Und trotz der nur oberflächlichen Ähnlichkeit mit meiner alten Schule fühlte es sich auf irgendeiner seltsamen Wellenlänge doch tröstlich und real an.
Die andere Leistungsgruppe in Englisch las Große Erwartungen. Meine las Walden, und ich versteckte mich in der kühlen Stille des Buches, das mir Zuflucht vor dem Stahlblechglanz der Wüste gab. In der Vormittagspause (in der wir zusammengetrieben und hinausgeschickt wurden, auf einen mit Maschendrahtzaun umgebenen Schulhof neben den Verkaufsautomaten) stellte ich mich mit einem Taschenbuch in die schattigste Ecke, die ich finden konnte, und unterstrich mit einem Rotstift viele der besonders spannenden Sätze: » Die Mehrzahl der Menschen verbringt ihr Leben in stiller Verzweiflung. « – » Eine stereotype, wenn auch unbewusste Verzweiflung ist selbst hinter den sogenannten Vergnügungen und Unterhaltungen der Menschheit verborgen. « Was hätte Thoreau zu Las Vegas gesagt, mit all dem Licht und dem Lärm, dem Müll und den Tagträumen, den Projektionen und hohlen Fassaden?
Das Gefühl der Vergänglichkeit in meiner Schule war beunruhigend. Es gab viele Militärgören, viele Ausländer– nicht wenige davon Kinder von leitenden Angestellten, die nach Las Vegas gekommen waren, um dort in wichtigen Managementjobs für Bauunternehmen zu arbeiten. Einige von ihnen hatten im Laufe von neun oder zehn Jahren in ebenso vielen Staaten gelebt, und viele waren auch im Ausland gewesen: in Sydney, Caracas, Beijing, Dubai, Taipeh. Es gab aber etliche schüchterne, halb unsichtbare Jungen und Mädchen, deren Eltern vor dem strapaziösen Landleben geflohen waren und jetzt hier als Hotelpagen und Zimmermädchen arbeiteten. In diesem neuen Ökosystem wurde die Beliebtheit anscheinend nicht durch Geld oder wenigstens gutes Aussehen bestimmt. Es kam, wie ich bald herausfand, vor allem darauf an, wer am längsten in Las Vegas gelebt hatte, und deshalb saßen hinreißende mexikanische Schönheiten und die Erben international operierender Bauunternehmer in der Lunchpause allein, während die reizlosen,
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