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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zu verschwinden, sodass, wenn ich aufblickte, nicht ich, sondern das Bild real war.
    1622– 1654. Sohn eines Lehrers. Weniger als ein Dutzend mit Sicherheit ihm zugeschriebene Werke. Laut van Bleyswijck, dem Stadthistoriker von Delft, porträtierte Fabritius in seinem Atelier gerade den Küster der Oude Kerk von Delft, als um halb elf Uhr vormittags das Lager der Delfter Pulvermühle explodierte. Die Leiche des Malers Fabritius wurde von benachbarten Bürgern aus den Trümmern seines Ateliers gezogen, » mit großer Trauer « , hieß es in dem Buch, » und nicht wenigen Mühen « . Was mich an diesen kurzen Darstellungen in den geliehenen Büchern fesselte, war das Element des Zufalls: willkürliche Katastrophen, seine und meine, die an einem unsichtbaren Punkt konvergierten, der Big Bang, wie mein Vater es nannte, nicht in irgendeiner Weise spöttisch oder abschätzig, sondern in respektvoller Anerkennung der Mächte des Schicksals, die auch sein eigenes Leben bestimmten. Man konnte dieZusammenhänge jahrelang studieren und es nie begreifen– es ging immer um Dinge, die zusammenkamen, Dinge, die auseinanderbrachen, Zeitschleifen, meine Mutter, die draußen vor dem Museum stand, als die Zeit flackerte und das Licht seltsam wurde, Ungewissheiten, die am Rand einer unermesslichen Helligkeit schwebten. Die vereinzelte Möglichkeit, die alles verändern könnte oder auch nicht.
    Im ersten Stock war das Wasser aus dem Hahn zu stark gechlort, um es zu trinken. Nachts wehte ein trockener Wind Müll und leere Bierdosen über die Straße. Feuchtigkeit und Schwüle waren für Antiquitäten das Schlimmste überhaupt, hatte Hobie mir erklärt und an der Standuhr, die er restaurierte, als ich New York verlassen hatte, gezeigt, wie das Holz wegen der Feuchtigkeit von innen verfault war ( » Jemand hat eimerweise Wasser über einen Steinboden gekippt, siehst du, wie weich das Holz ist, wie angegriffen? « ).
    Zeitschleife: eine Art, die Dinge zweimal oder öfter zu sehen. Genau wie sich die Rituale meines Vaters, seine Wettsysteme, all seine Orakel und Magie auf ein Bewusstseinsfeld unerkannter Muster bezogen, so war auch die Explosion in Delft Teil eines komplizierten Gefüges von Ereignissen, die bis in die Gegenwart nachwirkten. » Das Geld ist nicht wichtig « , sagte mein Dad. » Geld repräsentiert nur die Energie dahinter, damit kann man ihm folgen, dem Fluss des Zufalls. « Der Distelfink sah mich aus glänzenden, unveränderlichen Augen fest an. Das Holzbrett war winzig, » nur wenig größer als ein DIN -A4-Blatt « , wie eins meiner Kunstbücher berichtete, obwohl all diese Daten und Größen, die toten Lehrbuchfakten, auf ihre Weise genauso irrelevant waren wie die Statistiken auf den Sportseiten, als die Packers im vierten Quarter mit zwei Punkten führten und es angefangen hatte, fein und eisig aufs Spielfeld zu schneien. Das Gemälde, seine Magie und Lebendigkeit, war wie dieser eigenartig luftige Augenblick, als der Schneefall einsetzte, grünliches Licht und wirbelnde Flocken vor den Kameras, und man sich nicht mehr um das Spiel und darum kümmerte, wer gewann oder verlor, sondern nur diesen sprachlosen stürmischen Moment in sich aufsaugen wollte. Wenn ich das Gemälde betrachtete, spürte ich dieselbe Konvergenz in einem Punkt: ein flüchtiger sonnenbeschienener Augenblick, der jetzt und für immer existierte. Nur gelegentlich bemerkte ich die Kette am Knöchel des Finken oder dachte daran, wie grausam dieses Leben für ein kleines lebendiges Wesen sein musste– kurz aufzuflattern und immer wieder am selben hoffnungslosen Ort zu landen.
    V
    Gut war: Ich freute mich, wie nett mein Dad zu mir war. Er führte mich zum Essen aus– schick, in Restaurants mit weißen Tischdecken, nur wir beide–, und zwar mindestens einmal die Woche. Manchmal lud er Boris ein mitzukommen, was der immer sofort annahm– die Verlockung eines guten Essens war stark genug, um selbst Kotkus Anziehungskräfte zu überwinden–, aber seltsamerweise fand ich es netter, wenn mein Dad und ich allein waren.
    » Weißt du « , sagte er bei einem dieser Essen, wir ließen uns, obwohl es schon spät war, Zeit beim Dessert, redeten über die Schule, alles Mögliche (dieser neue, zugewandte Dad! Wo war er hergekommen?), » weißt du, ich finde es wirklich nett, dich besser kennengelernt zu haben, seit du hier draußen bist, Theo. «
    » Also, ähm, ja, ich auch « , sagte ich verlegen, meinte es aber ernst.
    » Ehrlich « , mein Dad fuhr sich mit

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