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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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alles verzweifelt und ungewiss wurde, auf dem Bildschirm und jenseits davon, der grelle stählerne Glanz der Fenster zum Innenhof verblasste, wurde erst gold und dann grau, lange Schatten und Abend senkten sich über die Stille der Wüste, eine Traurigkeit, die ich nicht abschütteln konnte, ein Gefühl von Menschen, die stumm zu den Stadionausgängen strebten, und kaltem Regen, der auf Collegestädte im Osten fiel.
    Die Panik, die mich dann ergriff, ist schwer zu erklären. Diese Spieltage endeten auf eine derart abrupte Weise, fast so, als ob jemand Blut verloren hätte, die mich daran erinnerte, wie ich zugesehen hatte, als die Einrichtung unserer New Yorker Wohnung in Kartons gepackt und weggeschafft worden war: ein Gefühl von Bodenlosigkeit und Fließen, nichts, woran man sich festhalten konnte. Oben schloss ich die Tür meines Zimmers, schaltete alle Lichter an, rauchte Gras, wenn ich welches hatte, hörte Musik über meine tragbaren Lautsprecher– vorher ungehörte Musik wie Schostakowitsch und Erik Satie, die ich für meine Mutter auf meinen iPod geladen hatte und seitdem nicht dazu gekommen war zu löschen– und sah mir Bücher aus der Bibliothek an, meistens Kunstbände, weil sie mich an sie erinnerten.
    Die Meisterwerke holländischer Malerei. Delft: Das Goldene Zeitalter. Zeichnungen von Rembrandt, anonymen Schülern und Nachfolgern. An einem Computer in der Schule hatte ich recherchiert, dass es ein Buch über Carel Fabritius gab (ein schmales Bändchen von lediglich hundert Seiten), das jedoch in der Schulbibliothek nicht vorrätig war, und die Zeit, die wir am Computer verbrachten, wurde so streng überwacht, dass ich zu paranoid war, um online weiterzuforschen– vor allem nachdem ein gedankenloser Klick auf einen Link ( Het Puttertje, Der Distelfink, 1654 ) mich auf eine beängstigend offiziell aussehende Seite namens Missing Art Database geführt hatte, die mich aufforderte, mich mit Namen und Adresse anzumelden. Der unerwartete Anblick der Worte Interpol und Verschwunden hatte mich so erschreckt, dass ich den Computer in meiner Panik komplett ausgeschaltet hatte, was wir eigentlich nicht tun sollten. » Was hast du da gerade gemacht? « , wollte Mr. Ostrow, der Bibliothekar wissen, ehe ich den Rechner wieder hochfahren konnte. Er griff über meine Schulter und tippte das Passwort ein.
    » Ich… « Trotz allem war ich erleichtert, dass ich keine Pornoseiten angeguckt hatte, als er durch Browser-Chronik zu blättern begann. Eigentlich hatte ich mir von den fünfhundert Dollar, die mein Vater mir zu Weihnachten geschenkt hatte, einen billigen Laptop kaufen wollen, aber das Geld war mir irgendwie abhandengekommen– Missing Art, sagte ich mir, kein Grund über das Wort verschwunden in Panik zu geraten, zerstörte Kunstwerke waren schließlich auch verschwunden, oder? Und obwohl ich keinen Namen angegeben hatte, beunruhigte es mich, dass ich über die IP -Adresse der Schule versucht hatte, auf die Datei zuzugreifen. Soviel ich wusste, hatten die Ermittler meine Spur nach ihrem Besuch bei mir im Auge behalten und wussten, dass ich in Vegas war. Die Verbindung war zwar minimal, aber real.
    Das Gemälde war– ziemlich raffiniert, wie ich fand– in einem sauberen Kopfkissenbezug versteckt, den ich mit Klebeband an die Rückseite des Kopfteils meines Bettes geklebt hatte. Von Hobie hatte ich gelernt, wie vorsichtig man mit alten Dingen umgehen musste (manchmal trug er bei der Arbeit an besonders empfindlichen Stücken weiße Stoffhandschuhe), und ich berührte es nie mit nackten Händen, nur an den Rändern. Ich nahm es nur heraus, wenn Dad und Xandra nicht da waren und eine Weile garantiert nicht zurückkommen würden– doch selbst wenn ich es nicht sehen konnte, genoss ich das Wissen, dass es da war, wegen der Tiefe und Solidität, die es den Dingen gab, der Festigung eines Systems, einer unsichtbaren, fundamentalen Richtigkeit, die mich beruhigte, so wie es mich tröstete zu wissen, dass sich weit entfernt in baltischen Gewässern unbehelligt Wale tummelten und Mönche in obskuren Zeitzonen ununterbrochen Gesänge für die Rettung der Welt anstimmten.
    Es herauszunehmen und zu betrachten, war nichts, was man leichtfertig tat. Selbst in der Geste, die Hand danach auszustrecken, lag ein Gefühl von Ausweitung, von Schweben und Erhebung, und wenn ich es lange genug angesehen hatte, die Augen trocken von der tiefgekühlten Wüstenluft, schien an irgendeinem seltsamen Punkt der Raum zwischen mir und ihm

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