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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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besonders behaglich– kein bisschen behaglich, da wir seit einer Weile keinen Kontakt mehr gehabt hatten, mein Fehler, nicht seiner, an irgendeinem Punkt hatte ich einfach aufgehört zurückzuschreiben. Einerseits war es der natürliche Lauf der Dinge, andererseits hatte Boris’ beiläufige Spekulation ( » alte Schwuchtel? « ) mich unterschwellig abgestoßen, und seine letzten zwei oder drei Briefe waren unbeantwortet geblieben.
    Ich fühlte mich schlecht, ich fühlte mich schrecklich. Obwohl es nur eine kurze Fahrt war, musste ich auf der Rückbank eingedöst sein, denn als der Taxifahrer hielt und fragte » Hier okay? « , schreckte ich hoch und versuchte für einen Moment perplex, mich zu erinnern, wo ich war.
    Der Laden war– wie ich bemerkte, als das Taxi wegfuhr– geschlossen und dunkel, als wäre er während der ganzen Zeit meiner Abwesenheit von New York nie geöffnet gewesen. Die Fensterscheiben waren von einem Schmutzfilm überzogen, und als ich hineinblickte, sah ich, dass manche Möbel mit Laken zugedeckt waren. Sonst hatte sich überhaupt nichts verändert, bis auf die zusätzliche Staubschicht, mit der all die alten Bücher und der Zierrat– die Marmorkakadus und Obeliske– bedeckt waren.
    Mein Mut sank. Ich stand eine lange Minute oder zwei auf der Straße, bevor ich mich traute zu klingeln. Mir schien, als hätte ich dem fernen Echo Ewigkeiten nachgelauscht, obwohl wahrscheinlich kaum Zeit verging, und ich hatte mir gerade eingeredet, dass niemand zu Hause war (und was würde ich dann machen? Zurück zum Times Square laufen und versuchen, irgendwo ein billiges Hotel zu finden, oder mich freiwillig als Ausreißer bei der Polizei melden?), als die Tür urplötzlich geöffnet wurde und ich mich nicht Hobie, sondern einem Mädchen in meinem Alter gegenübersah.
    Sie war es– Pippa. Immer noch winzig (ich war viel größer geworden als sie) und dünn, aber viel gesünder aussehend als bei unserer letzten Begegnung, voller im Gesicht. Sie hatte jede Menge Sommersprossen, und ihr Haar war auch anders, es schien in einer anderen Farbe und Textur nachgewachsen zu sein, nicht rotblond, sondern dunkler, rostrot, und ein wenig widerspenstig wie das ihrer Tante Margaret. Sie war gekleidet wie ein Junge, dicke Socken, eine alte Cordhose, ein zu großer Pullover, dazu nur ein rosa-orangefarben gestreiftes Tuch, wie es eine überkandidelte Großmutter tragen würde. Sie sah mich aus ihren goldbraunen Augen fragend an, die Stirn gerunzelt, höflich, aber zurückhaltend: ein Fremder. » Kann ich helfen? « , fragte sie.
    Sie hat mich vergessen, dachte ich bestürzt. Wie konnte ich erwarten, dass sie sich erinnerte? Es war lange her, und ich wusste, dass auch ich anders aussah. Es war, wie jemanden zu erblicken, den man für tot gehalten hatte.
    Und dann tauchte hinter ihr– in farbbeklecksten Chinos und einer an den Ellenbogen durchgescheuerten Strickjacke die Treppe hinunterpolternd– Hobie auf. Er hat sein Haar geschnitten, war mein erster Gedanke, es war stoppelkurz und viel weißer, als ich es in Erinnerung hatte. Seine Miene war leicht verärgert, und einen niederschmetternden Augenblick lang glaubte ich, er würde mich auch nicht erkennen. » Gütiger Gott. « Er machte unvermittelt einen Schritt zurück.
    » Ich bin’s « , sagte ich hastig. Ich hatte Angst, er würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen. » Theodore Decker. Erinnern Sie sich? «
    Pippa blickte rasch zu ihm auf– offensichtlich kannte sie meinen Namen, auch wenn sie mich nicht erkannt hatte–, und die freundliche Überraschung in ihren Gesichtern war so verblüffend, dass ich anfing zu weinen.
    » Theo. « Seine Umarmung war kräftig und väterlich und so innig, dass ich noch mehr weinen musste. Dann war seine Hand auf meiner Schulter, eine schwere ankernde Hand, der Inbegriff von Sicherheit und Autorität. Er führte mich in die Werkstatt, das Mattgold und die satten Holzgerüche, von denen ich geträumt hatte, die Treppe hinauf in den längst verloren geglaubten Salon mit seinem Samt, den Urnen und Bronzestatuen. » Es ist wundervoll, dich zu sehen « , sagte er und » Du siehst völlig erschöpft aus « und » Wann bist du zurückgekommen? « und » Hast du Hunger? « und » Meine Güte, bist du groß geworden « und » Diese Haare! Wie Mogli, der Junge aus dem Dschungel! « und– (inzwischen besorgt)– » Ist es dir hier drin zu beengt und stickig? Soll ich ein Fenster aufmachen? « und, als Popper den Kopf aus der Tasche

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