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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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meine SMS und war trotz allem erfreut, endlich eine Nachricht vorzufinden– eine Nummer, die ich nicht erkannte, doch es musste Boris sein.
    Ich versuchte, ihn zurückzurufen– ich hatte ihm auf der Fahrt circa fünfzig SMS geschickt–, aber niemand nahm ab, und bei Kotkus Handy landete ich direkt auf der Mailbox. Xandra konnte warten. Ich ging mit Popper zurück zum Central Park South, kaufte an einem Stand, der gerade zumachte, drei Hotdogs (eins für Popper, zwei für mich) und erwog, während wir auf einer entlegenen Bank direkt hinter dem Scholars’ Gate aßen, meine Möglichkeiten. In meinen Wüstenfantasien von New York hatte ich manchmal perverse Visionen gehabt, wie Boris und ich auf der Straße lebten, um den St. Mark’s Place oder Tompkins Square, möglicherweise mit Münzen in Pappbechern klimpernd, zusammen mit den Skater-Punks, die sich früher über Andy und mich in unseren Schuluniformen lustig gemacht hatten. Aber allein und mit Fieber in der novemberlichen Kälte war die reale Aussicht, auf der Straße zu schlafen, ungleich weniger reizvoll.
    Das Verdammte war: Ich war bloß fünf Blocks von Andys Haus entfernt. Ich überlegte, ihn anzurufen– ihn vielleicht zu bitten, mich zu treffen–, und entschied mich dann dagegen. Bestimmt könnte ich ihn anrufen, wenn ich verzweifelt war: Er würde sich bereitwillig aus dem Haus schleichen, mir Kleidung zum Wechseln, aus dem Portemonnaie seiner Mutter gestohlenes Geld oder– wer weiß– vielleicht einen Schwung übrig gebliebener Krebsfleisch-Kanapees oder die gesalzenen Erdnüsse mitbringen, die die Barbours ständig aßen. Aber das Wort Almosen wirkte noch in mir nach. Sosehr ich Andy mochte, mein Auszug war fast zwei Jahre her. Und ich konnte nicht vergessen, wie Mr. Barbour mich angesehen hatte. Offensichtlich war irgendwas völlig schiefgelaufen, ich war nur nicht ganz sicher, was– mal abgesehen von der Gewissheit, dass ich– in meinem alles umhüllenden Gifthauch, der mich nie ganz verließ, konstruiert aus Scham, Wertlosigkeit und dem Gefühl, anderen zur Last zu fallen– irgendwie schuld daran war.
    Unbeabsichtigt– ich hatte ins Leere gestarrt– traf mein Blick auf den eines Mannes auf der Bank gegenüber. Ich guckte schnell weg, doch es war schon zu spät; er stand auf und kam zu mir rüber.
    » Süßes Hündchen « , sagte er, blieb stehen, um Popper zu tätscheln, und dann, als ich nicht antwortete: » Wie heißt du? Was dagegen, wenn ich mich setze? « Er war ein drahtiger Typ, klein, aber kräftig aussehend, und er stank. Ich mied seinen Blick und stand auf, doch als ich mich zum Gehen abwandte, packte er blitzschnell mein Handgelenk.
    » Was ist los « , sagte er mit hässlicher Stimme, » magst du mich nicht? «
    Ich riss mich los und rannte– Popper lief mir auf die Straße nach, zu schnell, weil er den Stadtverkehr und die schnellen Autos nicht gewöhnt war, und ich konnte ihn gerade noch rechtzeitig hochheben und über die 5th Avenue zum Hotel Pierre rennen. Mein Verfolger wurde auf der anderen Straßenseite von der inzwischen roten Ampel festgehalten und zog die Blicke einiger Fußgänger auf sich, doch als ich mich, sicher im Licht des warmen, hell erleuchteten Eingangs des Hotels– gut gekleidete Paare, Portiers, die Taxis heranwinkten– noch einmal zu ihm umdrehte, sah ich, dass er wieder im Park verschwunden war.
    Die Straßen waren lauter, als ich sie in Erinnerung hatte– und sie rochen auch stärker. An der Ecke vor A La Vieille Russie wurde ich von dem vertrauten alten Midtown-Gestank überwältigt: Kutschpferde, Busabgase, Parfüm und Urin. So lange hatte ich Vegas als ein Provisorium betrachtet und gedacht, mein richtiges Leben wäre das in New York– aber stimmte das? Nicht mehr, dachte ich düster, als ich den ausdünnenden Fußgängerstrom betrachtete, der an Bergdorf’s vorbeieilte.
    Obwohl meine Glieder schmerzten und das Fieber mich erneut frösteln ließ, lief ich gut zehn Blocks und versuchte immer noch, das zitternde flaue Gefühl aus den Beinen zu bekommen, diese durchdringende Vibration der Busse. Aber schließlich wurde mir die Kälte zu viel, und ich winkte ein Taxi heran. Es wäre eine bequeme Busfahrt gewesen, immer die 5th Avenue hinunter bis ins Village, doch nach drei ganzen Tagen in Greyhound-Bussen konnte ich die Vorstellung, auch nur eine Minute länger in einem weiteren Bus herumgeschaukelt zu werden, nicht ertragen.
    Der Gedanke, unangekündigt bei Hobie aufzutauchen, war mir auch nicht

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