Der Distelfink
als ob ich hinter dem greifbaren einen anderen Park sehen würde, eine Landkarte der Vergangenheit, einen Geisterpark, dunkel vor Erinnerungen, lange zurückliegende Schulausflüge und Zoobesuche. Ich ging auf dem Bürgersteig der 5th Avenue am Zaun entlang und blickte in den Park, die Wege im Schatten der Bäume strahlten im Schein der Laternen, rätselhaft und einladend wie der Wald aus Der König von Narnia. Wenn ich einen Abzweig nahm und einem dieser erleuchteten Wege folgte, würde ich in einem anderen Jahr wieder herauskommen, vielleicht in einer anderen Zukunft, in der meine Mutter– gerade zurück von der Arbeit– leicht windzerzaust auf der Bank (unserer Bank) am Pond auf mich warten würde: Sie würde ihr Handy einstecken, aufstehen und mich küssen, hallo, mein Schatz, wie war die Schule, was möchtest du heute zu Abend essen?
Dann blieb ich plötzlich stehen. Eine vertraute Gestalt im Anzug hatte sich an mir vorbeigedrängelt und ging vor mir über den Bürgersteig. Der helle Schopf leuchtete in der Dunkelheit, weißes Haar, das aussah, als sollte es lang und in einem Pferdeschwanz getragen werden. Er war in Gedanken versunken, ramponierter als gewöhnlich, doch ich erkannte ihn trotzdem sofort, die Art, wie er den Kopf neigte, ein leises Echo von Andy: Mr. Barbour, komplett mit Aktenkoffer, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause.
Ich rannte, um ihn einzuholen. » Mr. Barbour? « , rief ich. Er führte Selbstgespräche, doch ich hörte nicht, was er sagte. » Mr. Barbour, ich bin’s, Theo « , sagte ich laut und fasste seinen Ärmel.
Mit schockierender Heftigkeit fuhr er herum und stieß meine Hand weg. Es war tatsächlich Mr. Barbour, ich hätte ihn überall erkannt. Aber die Augen, aus denen er mich direkt ansah, waren die eines Fremden– hell, hart und voller Verachtung.
» Keine Almosen mehr! « , rief er mit schriller Stimme. » Verschwinde! «
Ich hätte die offenkundige Manie erkennen müssen. Es war eine verstärkte Version des Blicks, den mein Vater manchmal an Spieltagen gehabt hatte– oder was das betrifft auch, als ihm die Sicherung durchgebrannt war und er mich geschlagen hatte. Ich hatte Mr. Barbour nie erlebt, wenn er seine Medikamente nicht genommen hatte (Andy war typisch zurückhaltend in der Beschreibung der » Euphorien « seines Vaters gewesen, und damals wusste ich noch nichts von Zwischenfällen wie seinem Versuch, den Außenminister zu erreichen, oder dass er einmal im Pyjama zur Arbeit erschienen war), und seine Wut schien so wesensfremd für den zerstreuten und unbedachten Mr. Barbour, den ich kannte, dass ich nur beschämt zurückweichen konnte. Er starrte mich lange wütend an, strich über den Ärmel seines Mantels (als ob er beschmutzt wäre oder ich ihn durch meine Berührung kontaminiert hätte) und stolzierte davon.
» Hast du diesen Mann um Geld angebettelt? « , fragte ein anderer Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, während ich noch verdutzt auf dem Bürgersteig stand. » Hast du? « , wiederholte er drängender, als ich mich abwendete. Er war von dicklicher Statur, trug einen farblosen Anzug, der nach verheiratet mit Kindern aussah, und seine trottelige Art war mir unheimlich. Als ich ihm ausweichen wollte, stellte er sich mir in den Weg und ließ eine schwere Hand auf meine Schulter sinken, doch ich entwand mich seinem Griff und rannte panisch in den Park.
Über von welkem Laub feuchte und gelbe Wege lief ich zum Pond, wo ich instinktiv direkt zu unserem Rendezvous Point ging (wie meine Mutter und ich unsere Bank genannt hatten) und mich zitternd setzte. Es war mir wie ein unglaubliches und unfassbares Glück erschienen, Mr. Barbour auf der Straße zu treffen, und vier oder fünf Sekunden lang hatte ich geglaubt, nach der ersten Verlegenheit und Verwirrung würde er mich freudig begrüßen, ein paar Fragen stellen, ach, nicht so wichtig, dafür ist auch später noch Zeit, und mich mit nach Hause nehmen. Du liebe Güte, was für ein Abenteuer. Wird Andy sich freuen, dich zu sehen!
Jesses, dachte ich und fuhr mir, immer noch aufgewühlt, durchs Haar. In einer perfekten Welt wäre Mr. Barbour das Mitglied der Familie gewesen, das ich am liebsten auf der Straße getroffen hätte– lieber noch als Andy, bestimmt lieber als seine Geschwister und lieber auch als Mrs. Barbour mit ihren eisigen Pausen, ihren feinen gesellschaftlichen Spitzfindigkeiten und ihrem kühlen, unergründlichen Blick.
Aus Gewohnheit checkte ich zum gefühlt zehntausendsten Mal
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