Der Distelfink
Bewusstsein. Dunkel und klobig, nicht deutlich zu erkennen, rotteten sie sich stumm um uns zusammen, Dunkelheit überall und Gestalten wie Lumpenpuppen, aber es war eine Dunkelheit, auf der man davondriften konnte; sie hatte etwas Schläfriges an sich, ein schaumiges Kielwasser auf einem kalten, schwarzen Ozean, das brodelnd verschwindet.
Plötzlich war etwas ganz und gar nicht mehr in Ordnung. Er war wach und schüttelte mich. Seine Hände flatterten. Pfeifend atmete er ein und versuchte sich hochzustemmen.
» Was ist? « , fragte ich und schüttelte mich, um wach zu werden. Er keuchte erregt, zog an meinem Arm. Angstvoll richtete ich mich auf und schaute mich um, ob da vielleicht eine neue Gefahr im Anzug war: lose Kabel, ein Brand, eine gleich einstürzende Decke.
Er packte meine Hand. Drückte sie fest. » Nicht da « , brachte er hervor.
» Was? «
» Lass es nicht da. Nein. « Er schaute an mir vorbei und wollte auf etwas zeigen. » Bring es da weg. «
» Bitte, legen Sie sich hin! «
» Nein! Sie dürfen es nicht sehen. « Panisch umklammerte er meinen Arm und versuchte, sich daran hochzuziehen. » Sie haben die Teppiche gestohlen, sie bringen es in den Zollschuppen… «
Jetzt sah ich, er deutete auf ein staubiges rechteckiges Brett, praktisch unsichtbar zwischen gebrochenen Balken und Trümmern, kleiner als mein Laptop zu Hause.
» Das? « Ich schaute genauer hin. Es war mit Wachstropfen bekleckert und mit einem unregelmäßigen Flickenteppich von bröselnden Etiketten beklebt. » Wollen Sie das? «
» Ich flehe dich an. « Die Augen fest zugepresst. Er war erregt und hustete so stark, dass er kaum sprechen konnte.
Ich fasste die Tafel bei den Ecken und hob sie auf. Sie war überraschend schwer für einen so kleinen Gegenstand. Ein langer Splitter von einem zerbrochenen Rahmen hing an einer Ecke.
Ich wischte mit dem Ärmel über die staubige Fläche. Ein kleiner gelber Vogel, matt unter dem weißen Staubschleier. Die Anatomiestunde war übrigens in demselben Buch, aber sie hat mir eine Heidenangst eingejagt.
Ja, antwortete ich schläfrig. Ich drehte mich mit dem Bild in der Hand um und wollte es ihr zeigen, aber dann sah ich, sie war nicht da.
Beziehungsweise– sie war da und doch nicht da. Ein Teil von ihr war da, aber unsichtbar. Der unsichtbare Teil war der, auf den es ankam. Bisher hatte ich das noch nie verstanden. Aber als ich es jetzt laut aussprechen wollte, kamen die Worte verworren aus meinem Mund, und es war wie eine eiskalte Ohrfeige, als ich begriff, dass ich unrecht hatte. Beide Teile gehörten zusammen. Man konnte den einen nicht ohne den anderen haben.
Ich wischte mir mit dem Arm über die Stirn und versuchte, mir den Sand aus den Augen zu blinzeln, und mit einer ungeheuren Anstrengung– als stemmte ich ein Gewicht, das viel zu schwer für mich war– wollte ich meine Gedanken dahin schieben, wo sie hingehörten. Wo war meine Mutter? Einen Augenblick lang waren wir hier zu dritt gewesen, und sie– ich war mir ziemlich sicher– war eine von uns. Aber jetzt waren wir nur noch zwei.
Hinter mir hatte der alte Mann wieder angefangen, mit unbeherrschbarer Dringlichkeit zu husten und zu beben, als er versuchte, noch etwas zu sagen. Ich streckte mich nach hinten und wollte ihm das Bild geben. » Hier « , sagte ich und wandte mich dann an meine Mutter– an die Stelle, an der sie scheinbar gewesen war: » Ich bin gleich wieder da. «
Aber er wollte gar nicht das Bild haben. Gereizt stieß er es zu mir zurück und brabbelte etwas. Sein Kopf war auf der rechten Seite so klebrig durchtränkt vom Blut, dass ich das Ohr kaum sehen konnte.
» Was denn? « , fragte ich, in Gedanken immer noch bei meiner Mutter– wo war sie? » Verzeihung? «
» Nimm es. «
» Hören Sie, ich komme gleich wieder. Ich muss… « Ich brachte es nicht heraus, nicht richtig, aber meine Mutter wollte, dass ich nach Hause ging, und zwar sofort. Ich sollte mich dort mit ihr treffen, das zumindest hatte sie mir deutlich zu verstehen gegeben.
» Nimm es mit! « , bedrängte er mich. » Geh! « Er wollte sich aufsetzen. Seine Augen leuchteten wild, und seine Erregung machte mir Angst. » Sie haben alle Glühbirnen genommen, sie haben die Hälfte der Häuser in der Straße zertrümmert… «
Ein Tropfen Blut lief über sein Kinn.
I ch wagte nicht, ihn anzufassen. » Bitte bleiben Sie liegen… «
Er schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, aber die Anstrengung warf ihn nieder. Er hustete stoßweise,
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