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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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einen schweren Goldring mit einem geschnittenen Stein, und versuchte, ihn mir zu geben.
    » Nein, den will ich nicht. « Ich scheute davor zurück. » Warum tun Sie das? «
    Aber er drückte ihn mir in die Hand. Sein Atem kam blasig und hässlich. » Hobart and Blackwell « , sagte er, und seine Stimme klang, als ertrinke er von innen. » Läute die grüne Glocke. «
    » Läute die grüne Glocke « , wiederholte ich unsicher.
    Sein Kopf rollte vor und zurück wie bei einem angeschlagenen Boxer, und seine Lippen zitterten. Sein Blick war stumpf, und als er über mich hinwegglitt, ohne mich zu sehen, überlief mich ein Frösteln.
    » Sag Hobie, er soll aus dem Laden verschwinden « , sagte er mit schwerer Zunge.
    Ungläubig sah ich zu, wie leuchtend rotes Blut aus seinem Mundwinkel rieselte. Er hatte an seiner Krawatte gezerrt und sie gelockert. » Hier « , ich streckte die Hände aus, um ihm zu helfen, aber er schlug sie beiseite.
    » Er soll die Kasse zumachen und verschwinden! « , krächzte er. » Sein Vater schickt ein paar Kerle, die ihn zusammenschlagen sollen! «
    Seine Augen rollten in den Höhlen nach oben, seine Lider flatterten. Dann sank er in sich zusammen, sah flach und kollabiert aus, als sei alle Luft aus ihm gewichen, dreißig Sekunden lang, vierzig, wie ein Haufen alter Kleider, aber dann– so schroff, dass ich zusammenzuckte– schwoll seine Brust rasselnd wie ein Blasebalg an und hustete schlagartig einen Schwall Blut hervor, der mich von oben bis unten bespritzte. So gut er konnte, stemmte er sich auf den Ellenbogen hoch, und ungefähr dreißig Sekunden lang hechelte er wie ein Hund, seine Brust pumpte panisch, auf und ab, auf und ab, sein Blick fixierte etwas, das ich nicht sehen konnte, und die ganze Zeit hielt er meine Hand fest, als würde vielleicht alles wieder gut werden, wenn er sie nur fest genug umklammerte.
    » Alles in Ordnung? « , fragte ich panisch und den Tränen nahe. » Können Sie mich hören? «
    Er zappelte und strampelte– ein Fisch auf dem Trockenen–, und ich hielt seinen Kopf hoch oder versuchte es doch wenigstens, aber ich wusste nicht, wie, und ich hatte Angst, ihn zu verletzen, und die ganze Zeit klammerte er sich an meine Hand, als baumelte er von einem Hochhausdach und werde gleich abstürzen. Jeder Atemzug war ein isoliertes, gurgelndes Ringen nach Luft, ein schwerer Stein, der unter schrecklichen Anstrengungen vom Boden aufgehoben und wieder fallen gelassen wurde. Einmal sah er mich direkt an, und Blut quoll ihm in den Mund; anscheinend sagte er etwas, aber die Worte blubberten über sein Kinn.
    Dann– zu meiner endlosen Erleichterung– wurde er ruhiger, stiller, sein Griff um meine Hand lockerte sich und schmolz, und er schien zu sinken und davonzutreiben, fast als schwimme er auf dem Rücken im Wasser weg von mir. Besser?, fragte ich, und dann…
    Vorsichtig träufelte ich ihm ein bisschen Wasser auf den Mund– seine Lippen arbeiteten, ich sah, wie sie sich bewegten, und auf den Knien, wie ein junger Diener in einer Geschichte, wischte ich ihm mit dem Paisley-Tuch aus seiner Tasche ein bisschen von dem Blut aus dem Gesicht. Als er– grausam, allmählich und stückchenweise– ins Stille abdriftete, kippte ich auf den Fersen zurück und schaute ihm eindringlich in das zerstörte Gesicht.
    Hallo?, sagte ich.
    Ein papiernes Augenlid zuckte, halb geschlossen, blau geädert, ein Tick.
    » Wenn Sie mich hören können, drücken Sie meine Hand. «
    Seine Hand lag schlaff in meiner. Ich hockte da und sah ihn an und wusste nicht, was ich tun sollte. Es war Zeit zum Gehen, schon weit darüber hinaus– meine Mutter hatte sich ganz klar ausgedrückt–, aber ich sah keinen Weg hinaus aus dem Raum, in dem ich war, und eigentlich war es in gewisser Hinsicht schwierig, mir vorzustellen, ich sei irgendwo anders auf der Welt– ja, es gebe eine andere Welt außerhalb von dieser hier. Es war, als hätte ich nie ein anderes Leben gehabt.
    » Können Sie mich hören? « , fragte ich ihn ein letztes Mal, beugte mich tief über ihn und hielt mein Ohr dicht an seinen blutigen Mund. Aber da war nichts.
    VI
    Weil ich ihn, falls er sich nur ausruhte, nicht stören wollte, stand ich so leise wie möglich auf. Mir tat alles weh. Einen Moment lang blieb ich stehen und schaute auf ihn hinunter und wischte mir die Hände an meiner Schuljacke ab– ich war überall mit seinem Blut beschmiert, und meine Hände waren glitschig davon–, und dann sah ich mich in der Mondlandschaft aus

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