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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zurück und strich über die Trümmerlandschaft, bis ich sie wieder sah, ungefähr fünf Schritte weit entfernt, halb vergraben in einem Haufen Schutt: nur die Andeutung eines Etiketts im vertrauten Kühlschrankblau.
    Gefühllos und schwerfällig, als stapfte ich durch tiefen Schnee, watete ich in Schlangenlinien durch die Trümmer, und Brocken zerbrachen unter meinen Füßen mit scharfem Krachen wie Eis. Aber ich war noch nicht sehr weit gekommen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf dem Boden sah, auffällig in der Stille, eine Verschiebung von Weiß auf Weiß.
    Ich blieb stehen. Dann watete ich ein paar Schritte näher heran. Es war ein Mann, flach auf dem Rücken, von Kopf bis Fuß weiß vom Staub. Er war so gut getarnt in der von Asche überpuderten Ruinenlandschaft, dass es einen Moment dauerte, bis seine Umrisse erkennbar wurden: Kalk auf Kalk, wie eine vom Sockel gestürzte Statue. Mühsam versuchte er sich aufzurichten. Als ich näher kam, sah ich, dass er alt und sehr gebrechlich war, ein wenig missgestaltet, wie ein Buckliger. Sein Haar– was davon noch übrig war– stand senkrecht auf dem Kopf, die eine Seite seines Gesichts war mit hässlichen Brandwunden gesprenkelt, und der Kopf über dem einen Ohr war nichts als ein klebrig schwarzer Horror.
    Ich hatte ihn gerade erreicht, als er– unerwartet schnell– den staubweißen Arm vorschießen ließ und meine Hand packte. Panisch erschrocken fuhr ich zurück, aber er hielt mich nur noch fester und hustete und hustete dabei ungesund feucht.
    Wo–?, schien er zu fragen. Wo–? Er wollte zu mir aufschauen, aber sein Kopf schwankte schwer auf dem Hals, und sein Kinn rollte auf der Brust hin und her, sodass er mich unter den Brauen hervor anstarren musste wie ein Geier. Aber die Augen in dem zerstörten Gesicht waren intelligent und verzweifelt.
    – O Gott, sagte ich und bückte mich, um ihm zu helfen– warten Sie, warten Sie–, und dann brach ich ab und wusste nicht weiter. Die untere Hälfte seines Körpers lag verdreht auf dem Boden wie ein Haufen schmutziger Wäsche.
    Er stützte sich mit den Armen auf, tapfer, wie es aussah, seine Lippen bewegten sich, und immer noch versuchte er sich aufzurichten. Er stank nach verbrannten Haaren und verbrannter Wolle. Aber die untere Hälfte seines Körpers schien mit der oberen unverbunden zu sein, und er hustete und sackte wieder zusammen.
    Ich sah mich um und versuchte mich zu orientieren; der Schlag an den Kopf hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, und ich hatte kein Gefühl für die Zeit und wusste nicht mal, ob es Tag oder Nacht war. Die großartige Trostlosigkeit des Raumes machte mich fassungslos– hoch und karg wie ein Speicher, durchzogen von Schichten von Rauch, die sich dort, wo die Decke (oder der Himmel) sein sollte, verwirbelten und zeltähnlich blähten. Aber obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich war (oder warum), hatte die ganze Zerstörung noch etwas Halberinnertes, war kinohaft aufgeladen im grellen Licht der Notbeleuchtung. Im Internet hatte ich Filmaufnahmen von einem Hotel in der Wüste gesehen, das gesprengt worden war: Im Augenblick des Einsturzes waren die wabenförmig angeordneten Zimmer in genau so einem Lichtblitz erstarrt.
    Dann fiel mir das Wasser wieder ein. Ich trat zurück und schaute mich um und um, und mein Herz machte einen Satz, als ich das staubige Blau aufscheinen sah.
    – Hören Sie, sagte ich und drückte mich beiseite. Ich wollte nur–
    Der alte Mann beobachtete mich mit einem Blick, der hoffnungsvoll und hoffnungslos zugleich war, wie ein verhungerter Hund, der zu schwach zum Laufen war.
    – Nein– warten Sie. Ich komme zurück.
    Wie ein Betrunkener torkelte ich durch die Trümmer– pflügte mich im Zickzack hindurch, stieg über kniehohe Gegenstände und wühlte mich durch Ziegel und Beton und Schuhe und Handtaschen und eine Menge verkohlter Teile, die ich nicht allzu genau ansehen wollte.
    Die Flasche war drei viertel voll und fühlte sich heiß an. Aber nach dem ersten Schluck übernahm meine Kehle das Kommando, und ich hatte mehr als die Hälfte hinuntergestürzt– nach Plastik schmeckendes, spülwasserwarmes Wasser–, ehe mir klar wurde, was ich tat, und ich mich zwang, die Flasche zuzuschrauben und in den Beutel zu stecken, um sie ihm zu bringen.
    Ich kniete bei ihm. Steine bohrten sich in meine Knie. Ihn fröstelte, sein Atem ging rasselnd und ungleichmäßig, und sein Blick begegnete meinem nicht, sondern irrte oberhalb davon umher, starrte

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