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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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nass und elend. Als er sich den Mund abwischte, sah ich hellrot verschmiertes Blut auf seinem Handrücken.
    » Jemand wird kommen. « Ich war nicht sicher, dass ich es glaubte, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
    Er sah mir direkt ins Gesicht und suchte nach einem Flackern, an dem er sehen könnte, dass ich ihn verstand. Als er nichts entdeckte, krallte er wieder die Hände in den Boden, um sich hochzuziehen.
    » Feuer « , sagte er mit gurgelnder Stimme. » Die Villa in Ma’adi. On a tout perdu. «
    Wieder brach er ab und hustete. Rötlicher Schaum blubberte aus seinen Nasenlöchern. Inmitten der unwirklichen Szenerie aus Steinhaufen und geborstenen Monolithen hatte ich das traumartige Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben, als hätte ich durch Tölpelhaftigkeit und Unwissenheit eine entscheidend wichtige Märchenaufgabe verpatzt. Zwar war nirgendwo in dieser Steinwüste ein Feuer zu entdecken, aber ich kroch doch zu dem Nylonbeutel hinüber und schob das Bild hinein, nur damit er es nicht mehr sah und sich nicht aufregte.
    » Keine Sorge « , sagte ich. » Ich werde… «
    Er hatte sich beruhigt. Er legte eine Hand auf mein Handgelenk, und sein Blick war fest und hell. Unvernunft wehte über mich hinweg wie ein kalter Wind. Ich hatte getan, was ich tun sollte. Alles würde gut werden.
    Während ich mich noch in dieser tröstlichen Vorstellung sonnte, drückte er mir beruhigend die Hand, als hätte ich laut gesprochen. » Wir werden von hier wegkommen « , sagte er.
    » Ich weiß. «
    » Wickle es in Zeitungspapier und leg es ganz unten in die Truhe, mein Lieber. Zu den anderen Kuriositäten. «
    Ich war erleichtert, weil er sich beruhigt hatte, und erschöpft von meinen Kopfschmerzen, und die Erinnerung an meine Mutter war verblasst und nur noch das Flattern einer Motte. Ich ließ mich neben ihm nieder, schloss die Augen und fühlte mich merkwürdig behaglich und sicher. Abwesend, verträumt. Er faselte leise ein wenig vor sich hin– ausländische Namen, Summen, Zahlen, ein paar französische Wörter, aber hauptsächlich Englisch. Ein Mann war gekommen, um sich die Möbel anzusehen. Abdou war in Schwierigkeiten, weil er Steine geworfen hatte. Aber das alles leuchtete irgendwie ein, und ich sah den Palmengarten und das Klavier und die grüne Eidechse am Baumstamm wie auf den Seiten eines Fotoalbums.
    » Findest du allein nach Hause, mein Lieber? « , fragte er irgendwann, das weiß ich noch.
    » Natürlich. « Ich lag neben ihm auf dem Boden, und mein Kopf war auf einer Höhe mit seinem klapprigen alten Brustbein, sodass ich jedes Stocken, jedes Keuchen seines Atems hören konnte. » Ich fahre jeden Tag allein mit der Bahn. «
    » Und wo, sagtest du, wohnst du jetzt? « Seine Hand auf meinen Kopf, ganz sanft, wie man einem Hund, den man gern hat, die Hand auf den Kopf legt.
    » East 57th Street. «
    » O ja! Beim Le Veau d’Or? «
    » Na ja, ein paar Straßen weiter. « Le Veau d’Or war ein Restaurant, in das meine Mutter gern gegangen war, als wir noch Geld hatten. Ich hatte meine ersten Schnecken dort gegessen und das erste Schlückchen Marc de Bourgogne aus ihrem Glas probiert.
    » Richtung Park, sagst du? «
    » Nein, näher am Fluss. «
    » Nah genug, mein Lieber. Baisers und Kaviar. Wie habe ich diese Stadt geliebt, als ich sie das erste Mal gesehen habe! Trotzdem, es ist nicht das Gleiche, oder? Ich vermisse das alles schrecklich, du nicht auch? Den Balkon und den… «
    » Garten. « Ich drehte mich um und sah ihn an. Parfüms und Melodien. Im Sumpf meiner Verwirrung war es mir vorgekommen, als sei er ein guter Freund oder ein Angehöriger, den ich vergessen hatte, ein lange verlorener Verwandter meiner Mutter…
    » Oh, deine Mutter! So ein Schatz! Ich werde nie vergessen, wie sie das erste Mal zum Spielen kam. Sie war das hübscheste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe. «
    Woher wusste er, dass ich an sie gedacht hatte? Ich wollte ihn fragen, ob er wüsste, wo sie war, aber er schlief. Seine Augen waren geschlossen, und sein Atem ging schnell und rau, als laufe er vor etwas weg.
    Ich schwand selbst langsam dahin– Ohrensausen, ein blödes Summen, ein metallischer Geschmack im Mund wie beim Zahnarzt–, und vielleicht wäre ich wieder in der Bewusstlosigkeit versunken und dort geblieben, wenn er mich nicht irgendwann heftig geschüttelt hätte, sodass ich mit panischem Aufbäumen erwachte. Er murmelte etwas und zerrte an seinem Zeigefinger. Er hatte seinen Ring abgenommen,

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