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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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einen klaren Kopf, schon seit sie klein war. Andy– Andy dachte an seine Orbit-Resonanzen oder was immer für einen Computer-Scheiß er zu Hause auf seinem Laptop gemacht hat, in Stresssituationen war er der reinste Spasti. Absolut verdammt typisch. Jedenfalls « , fuhr er ruhig fort– scheinbar ohne mein Erstaunen über seine Bemerkung zu bemerken, » hängt sie im Moment ein bisschen in der Luft. Du solltest sie mal zum Essen einladen oder irgendwas, Mommy wäre schier entzückt. «
    IX
    Als ich gegen elf aufbrach, hatte es aufgehört zu regnen, die Straßen waren glasig von Feuchtigkeit, und Kenneth, der Nachtportier (dieselben Augen und die Malt-Whisky-Fahne, einen dickeren Bauch, aber ansonsten unverändert) stand an der Tür. » Lass von dir hören, ja? « , sagte er, wie er es schon getan hatte, als ich noch ein kleiner Junge war und meine Mutter mich nach einer Übernachtung abgeholt hatte– dieselbe träge Stimme, einen Tick zu schwerfällig. Man konnte sich vorstellen, wie er in den qualmenden Trümmern eines Manhattan nach der Katastrophe in den Fetzen seiner alten Unform leutselig schwankend an der Tür stand, während die Barbours obenin ihrer Wohnung zum Heizen alte Ausgaben von National Geographic verbrannten und von Gin und Krebsfleisch aus der Dose lebten.
    Obwohl er jeden Aspekt des Abends durchdrungen hatte wie ein köchelndes Gift, war Andys Tod nach wie vor zu groß, um ihn zu begreifen– seltsam war allerdings auch, wie unvermeidlich es einem rückblickend vorkam, wie eigenartig vorhersagbar, beinahe so als hätte er an einer angeborenen tödlichen Schwäche gelitten. Schon als er sechs Jahre alt war– verträumt, linkisch, asthmatisch, hoffnungslos–, zeichnete sich der Makel des Unglücks und eines frühen Todes deutlich sichtbar um seine schwache kleine Gestalt ab und stempelte ihn ab wie ein kosmisches Schlag mich -Schild auf dem Rücken.
    Und dennoch war es auch beachtlich, wie seine Welt ohne ihn weiterhinkte. Merkwürdig, dachte ich, während ich über eine Pfütze auf dem Bürgersteig sprang, wie wenige Stunden alles verändern konnten– oder genauer gesagt, merkwürdig festzustellen, dass die Gegenwart eine so strahlende Scherbe der Vergangenheit in sich trug, beschädigt und angestoßen, aber nicht zerstört. Andy war gut zu mir gewesen, als ich sonst niemanden hatte. Das Mindeste, was ich tun konnte, war freundlich zu seiner Mutter und seiner Schwester zu sein. Damals fiel mir– im Gegensatz zu heute– nicht auf, dass es Jahre her war, seit ich mich aus der Betäubung meines Elends und meiner Selbstbezogenheit erhoben hatte. Zwischen Anomie und Trance, Trägheit und Lähmung, am eigenen Herzen nagend, gab es viele kleine, einfache, alltägliche Freundlichkeiten, die ich verpasst hatte, und selbst das Wort Freundlichkeit fühlte sich an, wie in einem Krankenhaus aufzuwachen, Stimmen zu hören, Menschen um sich zu spüren, mehr zu sein als digitalisierte Lebenszeichen auf einem Bildschirm.
    X
    Jeden-zweiten-Tag-Konsum war trotzdem eine Sucht, woran Jerome mich häufig erinnerte, zumal ich mich nicht besonders streng an die Jeden-zweiten-Tag-Regel hielt. New York war jeden Tag voller Menschenmassen-und-U-Bahn-Horror aller Art; die Plötzlichkeit der Explosion hatte mich nie mehr verlassen, ständig hielt ich Ausschau nach einem Unglück, erwartete es jeden Moment aus dem Augenwinkel. Bestimmte Formationen von Menschen an öffentlichen Orten, ein kriegsähnliches Drängen, jemand, der meinen Weg falsch kreuzte oder zu schnell in einer bestimmten Richtung lief, reichten aus, um bei mir Herzjagen und maschinenhammerartige Panik auszulösen, die mich zur nächsten Parkbank stolpern ließen. Da boten die Schmerzmittel meines Dads, die anfangs nur meine fast unkontrollierbaren Angstattacken gelindert hatten, eine so hinreißende Flucht, dass ich schon bald begann, sie als kleine Wohltat zu genießen: Erst war es eine Nur-am-Wochenende-Wohltat, dann eine Nach-der-Uni-Wohltat, dann die schnurrende ätherische Wonne, die mich willkommen hieß, wann immer ich unglücklich oder gelangweilt war (was leider ziemlich häufig der Fall war). Bis dahin hatte ich auch die welterschütternde Entdeckung gemacht, dass die winzigen von Xandras Pillen, die ich nicht beachtet hatte, weil sie so mickrig aussahen, buchstäblich zehn Mal so stark waren wie die Vicodin und Percocet, die ich eimerweise schluckte– Oxycontin 80, stark genug, um einen Menschen ohne Toleranz zu töten, wozu man mich zu diesem

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