Der Distelfink
Zeitpunkt definitiv nicht mehr zählen konnte. Seit mein scheinbar unerschöpflicher Schatz an Narkotika in Tablettenform aufgebraucht war, kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, war ich gezwungen, mich auf der Straße zu versorgen. Sogar die Dealer tadelten die Summen, die ich ausgab, Tausende von Dollar alle paar Wochen. Jack (Jeromes Vorgänger) hatte wiederholt mit mir geschimpft, während er sich auf dem schmutzigen Sitzsack lümmelte, von dem aus er sein Geschäft führte, und meine bankfrischen Hunderter zählte. » Du könntest sie genauso gut verbrennen, Bruder. « Heroin war billiger– fünfzehn Dollar das Tütchen. Selbst wenn ich es mir nicht spritzte– Jack hatte es auf der Innenseite einer Hamburger-Verpackung mühsam ausgerechnet–, würde mein Kostenaufwand deutlich vernünftiger ausfallen, irgendwas in der Gegend von vierhundertfünfzig Dollar im Monat.
Aber Heroin nahm ich nur, wenn ich eingeladen wurde– ein paar Krümel hier, ein paar Krümel da. Sosehr ich es liebte und mich danach verzehrte, kaufte ich nie selbst welches. Es würde keinen Grund geben, wieder aufzuhören. Bei Pharmazeutika hingegen waren die Kosten ein nützlicher Faktor, die meine Sucht nicht nur unter Kontrolle hielten, sondern auch einen ausgezeichneten Grund lieferten, jeden Tag nach unten zu gehen und Möbel zu verkaufen. Es war ein Mythos, dass man auf Opiaten nicht funktionieren konnte. Drücken war eine Sache, aber für jemanden wie mich– der einen Satz machte, wenn neben ihm Tauben vom Bürgersteig aufflatterten, geschlagen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die praktisch an Spastik und zerebrale Lähmung grenzte– waren Pillen der Schlüssel, nicht nur kompetent, sondern auch höchst effektiv zu agieren. Alkohol machte die Menschen nachlässig und unkonzentriert, man musste sich nur Platt Barbour angucken, der um drei Uhr nachmittags bei J.G. Melon herumhing und sich in Selbstmitleid suhlte. Und was meinen Dad betraf: Selbst nachdem er trocken war, hatte er die kraftlose Tapsigkeit eines trunkenen Boxers behalten, tollpatschig mit dem Telefon oder der Küchenzeitschaltuhr, Gehirnerweichung oder wie man das nannte, die mentalen Folgen schweren Alkoholmissbrauchs, neurologische Schäden, die nie mehr weggingen. Seine Logik war ernsthaft verwirrt gewesen, und er konnte nie über längere Zeit einen Job halten. Ich– na ja, vielleicht hatte ich keine Freundin oder überhaupt irgendwelche erwähnenswerten Nicht-Drogen-Bekanntschaften, doch ich arbeitete zwölf Stunden am Tag, nichts brachte mich aus der Fassung, ich trug Thom-Browne-Anzüge, traf mich lächelnd mit Menschen, die ich nicht ausstehen konnte, ging zweimal die Woche schwimmen, spielte hin und wieder Tennis und mied Zucker und Fertigmahlzeiten. Ich war locker und sympathisch, ich war gertenschlank, ich suhlte mich nicht in Selbstmitleid oder negativen Gedanken irgendeiner Art, ich war ein exzellenter Verkäufer– das sagten alle–, und die Geschäfte liefen so gut, dass ich das, was ich für Drogen ausgab, kaum vermisste.
Nicht, dass es nicht ein paar Entgleisungen gegeben hatte– unberechenbare Gleitflüge, in denen die Dinge ein paar unheimliche Wimpernschläge lang rasend schnell außer Kontrolle gerieten, so wie man auf einer eisglatten Brücke ins Schleudern kam, und ich erkannte, wie übel es laufen könnte und wie schnell. Es war keine Frage des Geldes– mehr eine Frage eskalierender Dosen, Vergesslichkeit, was verkaufte Stücke oder zu verschickende Rechnungen betraf, Hobie, der mich seltsam ansah, wenn ich es übertrieben hatte und mit ein wenig zu glasigen Augen und zu benebelt nach unten kam. Dinnerpartys, Kunden… Verzeihung, haben Sie mit mir gesprochen, haben Sie etwas gesagt? Nein, nur ein bisschen müde, brüte irgendwas aus, vielleicht gehe ich heute ein bisschen früher schlafen, Leute. Ich hatte die hellen Augen meiner Mutter geerbt, die es, wenn ich nicht mit Sonnenbrille zu Vernissagen erscheinen wollte, praktisch unmöglich machten, Stecknadel-Pupillen zu verbergen– nicht dass es irgendjemandem in Hobies Kreisen auffiel, außer (manchmal) einigen jüngeren, hipperen Schwulen– » Du bist ein böser Junge « , hatte der Bodybuilder-Freund eines Kunden mir bei einem förmlichen Abendessen ins Ohr geflüstert und mich zu Tode erschreckt. Und ich fürchtete, die Buchhaltung eines der Auktionshäuser zu betreten, weil einer der Typen dort– älter, Brite, selbst süchtig– mich jedes Mal anmachte. Natürlich
Weitere Kostenlose Bücher