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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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passierte es auch mit Frauen: eins der Mädchen, mit denen ich schlief– die Modepraktikantin– hatte ich mit Poptschik auf der kleinen Hundewiese im Washington Square Park kennengelernt, und nach dreißig Sekunden nebeneinander auf einer Parkbank war uns beiden klar gewesen, dass wir dieselbe Sucht teilten. Wenn die Dinge außer Kontrolle zu geraten drohten, hatte ich meinen Konsum immer heruntergefahren und auch einige Male ganz aufgehört– am längsten für eine Spanne von sechs Wochen. Nicht jeder war dazu in der Lage, sagte ich mir. Es war schlicht eine Frage der Disziplin. Aber zu jenem Zeitpunkt, im Frühling meines sechsundzwanzigsten Lebensjahres, war ich seit drei Jahren nicht mehr länger als drei Tage clean gewesen.
    Ich hatte mir überlegt, wie ich ganz aufhören könnte, wenn ich wollte: drastischer Entzug nach einem Sieben-Tage-Plan, jede Menge Loperamid, dazu Magnesiumzusätze und freie Aminosäuren, um meine ausgebrannten Neurotransmitter aufzufüllen. Proteinpulver, Elektrolytpulver, Melatonin (und Gras) zum Schlafen sowie diverse Kräutertinkturen und -tränke, auf die meine Modepraktikantin schwor, Lakritz- und Milchwurzel, Nesseln, Hopfen und Öl aus schwarzen Kreuzkümmelsamen, Baldrianwurzel und Helmkrautextrakt. Ich hatte eine Einkaufstüte vom Reformhaus mit allen benötigten Utensilien, die seit eineinhalb Jahren hinten in meinem Kleiderschrank stand, alles praktisch unberührt bis auf das Gras, das schon längst weg war. Das Problem bestand darin (wie ich wiederholt erlebt hatte), dass man nach sechsunddreißig Stunden, wenn der Körper heftig revoltierte und sich ein Leben ohne Opiate trostlos vor einem erstreckte wie ein Gefängnisflur, ein paar ziemlich zwingende Gründe brauchte, um weiter in die Dunkelheit zu gehen, anstatt sich direkt wieder auf das wunderbare Federbett zurückzusenken, das man törichterweise verlassen hatte.
    Als ich an jenem Abend von den Barbours zurückkam, schluckte ich eine Morphintablette mit Langzeitwirkung, wie es meine Gewohnheit war, wenn ich in reuevoller Stimmung nach Hause kam und das Gefühl hatte, mich aufbauen zu müssen: eine kleine Dosis, weniger als die Hälfte dessen, was ich brauchte, um irgendetwas zu spüren, mit dem Alkohol nur genug, dass ich nicht vor innerer Unruhe schlaflos wach lag. Am nächsten Morgen verlor ich den Mut (denn wenn ich in dieser Phase meines Ausstiegsplans mit Übelkeit aufwachte, war es um meine Entschlossenheit für gewöhnlich sehr schnell geschehen), zerdrückte erst dreißig und dann sechzig Milligramm auf der Marmorplatte des Nachttischs, zog sie durch einen Strohhalm, stand dann auf, nicht bereit, den Rest der Tabletten (im Wert von gut zweitausend Dollar) in der Toilette herunterzuspülen, kleidete mich an, sprühte mir Salzwasserspray in die Nase, schob– nachdem ich für den Fall, dass die Entzugserscheinungen, vor denen Jerome mich gewarnt hatte, zu unangenehm wurden, noch einige Morphintabletten mit Langzeitwirkung gehortet hatte– die Redbreast-Flake-Tabakdose in die Tasche und nahm um sechs Uhr, bevor Hobie aufwachte, ein Taxi zu dem Lagerhaus.
    Das Depot– geöffnet vierundzwanzig Stunden am Tag– war wie ein Bestattungskomplex der Maya, bis auf einen Angestellten, der am Empfang saß und Fernsehen guckte. Nervös ging ich zu den Fahrstühlen. In sieben Jahren hatte ich nur drei Mal einen Fuß auf das Gelände gesetzt– immer voller Angst– und mich auch nie zu dem eigentlichen Lagerraum oben vorgewagt, sondern war nur kurz in die Lobby geschlichen, um die Miete zu bezahlen, in bar: jeweils zwei Jahre im Voraus, die gesetzlich erlaubte Höchstdauer.
    Für den Lastenaufzug brauchte man eine Schlüsselkarte, an die ich zum Glück gedacht hatte. Leider funktionierte sie nicht richtig, sodass ich etliche Minuten in dem offenen Fahrstuhl stand– in der Hoffnung, dass der Mann am Empfang zu weggetreten war, um es mitzubekommen– und versuchte, den Kartenschlitz auszutricksen, bis die Stahltüren schließlich zischend zuglitten. Hypernervös und mit dem Gefühl beobachtet zu werden, das Gesicht möglichst von meinem verschwommenen Schatten auf dem Monitor abgewandt, fuhr ich in den achten Stock, 8D 8E 8F 8G, nackte Betonwände und Reihen gesichtsloser Türen und Tore wie eine vorfabrizierte Ewigkeit, in der es außer Beige keine Farben gab und sich bis in alle Zeiten kein Staub ablagerte.
    8R, zwei Schlüssel und ein Zahlenschloss, 7522, die letzten vier Ziffern von Boris’ Festnetznummer in Vegas.

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