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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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in der öffentlichen Version der Geschichte, der anerkannten Version, war ich einer der Leiber auf dem Boden gewesen, bewusstlos und in dem allgemeinen Tumult übersehen.
    Aber Weltys Ring war ein konkreter Beweis für meinen Aufenthaltsort. Zu meinem Glück sprach Hobie nicht gerne über Weltys Tod, doch hin und wieder– nicht oft, meistens spätabends, wenn er etwas getrunken hatte– erging er sich in Erinnerungen. » Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe?– Ist es nicht ein Wunder, dass …? « Irgendwann, irgendwann musste ja jemand den Zusammenhang herstellen. Ich hatte es immer gewusst, doch in meinem Drogennebel die Gefahr jahrelang ignoriert. Und vielleicht achtete auch niemand darauf. Vielleicht würde es nie jemand erfahren.
    Ich saß auf meiner Bettkante und starrte aus dem Fenster auf die 10th Street– Menschen, die von der Arbeit kamen, essen gingen, schrilles Gelächter. Ein feiner Nieselregen fiel schräg in den Lichtkegel der Laterne direkt vor meinem Fenster. Alles fühlte sich rissig und rau an. Ich sehnte mich dringend nach einer Tablette und wollte gerade aufstehen, um mir einen Drink zu machen, als ich– knapp außerhalb des Lichts und ungewöhnlich bei dem Kommen und Gehen auf der Straße– eine Gestalt bemerkte, die einsam und regungslos im Regen stand.
    Als sie nach einer halben Minute immer noch dastand, schaltete ich die Lampe aus und trat ans Fenster. Wie zur Antwort trat die Gestalt offen ins Licht der Laterne, und obwohl ihre Gesichtszüge im Dunkeln nicht deutlich zu erkennen waren, bekam ich doch eine Vorstellung von ihr: hochgezogene Schultern, eher kurze Beine, ein dicker irischer Leib. Jeans und Kapuzenpullover, schwere Schuhe. Eine Weile stand er da, die Silhouette eines Arbeiters, um diese Zeit seltsam fehl am Platz auf der Straße zwischen Fotoassistentinnen, gut gekleideten Paaren und ausgelassenen College-Kids auf dem Weg zu ihren abendlichen Verabredungen. Dann drehte er sich um und ging mit raschen ungeduldigen Schritten davon. Als er ins Licht der nächsten Laterne trat, sah ich ihn in seine Tasche greifen, eine Nummer auf seinem Handy wählen, den Kopf gesenkt, abgelenkt.
    Ich ließ die Gardinen sinken. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich Gespenster sah, tatsächlich sah ich ständig Gespenster, es gehörte zu meinem Alltag in einer modernen Stadt, die halb unsichtbare Maserung des Terrors, der Katastrophe, zusammenzucken, wenn die Alarmanlage eines Autos losging, immer auf der Hut vor dem, was passieren könnte, Qualmgeruch oder das Klirren von Scherben. Und trotzdem wünschte ich, ich wäre mir hundertprozentig sicher, dass es wirklich bloß meine Einbildung gewesen war.
    Alles war totenstill. Das Licht der Laterne fiel durch die Spitzengardinen und warf verzerrte, spinnenartige Schatten an die Wände. Ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass es ein Fehler war, das Bild zu behalten, und ich hatte es trotzdem getan. Aus seinem Besitz konnte nichts Gutes erwachsen. Es war nicht einmal so, als hätte es mir in irgendeiner Weise genutzt oder Vergnügen bereitet. In Las Vegas hatte ich es anschauen können, wann immer ich wollte, wenn ich krank, schläfrig oder traurig war, früh am Morgen und mitten in der Nacht, im Herbst oder Sommer, bei jedem Wetter und Sonnenstand anders. Das Gemälde in einem Museum zu sehen, war schon gut, doch es in dem verschiedenartigen Licht, in allen Stimmungen und Jahreszeiten zu betrachten, war, als würde man es auf tausendfach unterschiedliche Weise sehen. Und dieses Objekt aus Licht, das nur im Licht lebte, im Dunkeln einzusperren– das war aus mehreren Gründen verkehrt, als ich zu erklären gewusst hätte. Es war mehr als verkehrt: Es war verrückt.
    Ich holte ein Glas Eis aus der Küche, goss mir an der Anrichte einen Wodka ein, ging zurück in mein Zimmer, zog mein iPhone aus der Jackentasche und wählte– nachdem ich zögernd die ersten drei Ziffern von Jeromes Pieper gedrückt und wieder gelöscht hatte– stattdessen die Nummer der Barbours.
    Etta nahm ab. » Theo! « , sagte sie hörbar erfreut, während im Hintergrund der Fernseher in der Küche lief. » Möchtest du Katherine sprechen? « Nur Kitseys Familie und sehr enge Freunde nannten sie Kitsey, für alle anderen war sie Katherine.
    » Ist sie da? «
    » Sie kommt nach dem Abendessen. Ich weiß, dass sie auf deinen Anruf gewartet hat. «
    » Hmm… « Ich war unwillkürlich froh. » Sagst du ihr, dass ich angerufen habe? «
    » Wann kommst du uns wieder

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