Der Distelfink
besuchen? «
» Bald, hoffe ich. Ist Platt da? «
» Nein– er ist ebenfalls aus. Aber ich richte ihm auf jeden Fall aus, dass du angerufen hast. Und komm uns bald wieder besuchen, ja? «
Ich legte auf, setzte mich aufs Bett und trank Wodka. Es war beruhigend zu wissen, dass ich Platt anrufen konnte, wenn es nötig wurde– nicht wegen des Gemäldes. In dem Punkt traute ich ihm keinen Zentimeter über den Weg, aber soweit es Reeve und den Schubladenschrank betraf, schon. Denn dass Reeve das Möbel mit keinem Wort erwähnt hatte, war ominös.
Was konnte er denn tatsächlich unternehmen? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass Reeve sein Blatt überreizt hatte, indem er mich so direkt konfrontiert hatte. Was sollte es ihm nutzen, mir wegen des Möbels zuzusetzen? Was würde er gewinnen, wenn ich verhaftet, das Bild gefunden und für immer außerhalb seiner Reichweite geschafft wurde? Wenn er es haben wollte, konnte er nichts anderes tun, als zu warten, bis ich ihn dorthin führte. Das Einzige, was zu meinen Gunsten sprach– das Einzige –, war, dass Reeve nicht wusste, wo es war. Er konnte mich beschatten lassen, von wem er wollte, solange ich mich von dem Lagerraum fernhielt, konnte er es unmöglich aufspüren.
KAPITEL 10
Der Idiot
I
» Oh, Theo « , sagte Kitsey an einem Freitagnachmittag kurz vor Weihnachten, nahm einen der Smaragdohrringe meiner Mutter und hielt ihn ins Licht. Wir saßen bei Fred’s zum Mittagessen, nachdem wir den ganzen Vormittag bei Tiffany Besteck und Mustergeschirr angesehen hatten. » Sie sind wunderschön. Es ist bloß… « Ihre Stirn kräuselte sich.
» Ja …? « Um drei Uhr nachmittags war das Restaurant immer noch gut besetzt und von leisem Geplauder erfüllt. Als sie zum Telefonieren hinausgegangen war, hatte ich die Ohrringe aus der Tasche gezogen und auf dem Tischtuch arrangiert.
» Na ja, es ist bloß– ich frage mich. « Sie zog die Brauen zusammen, als würde sie ein Paar Schuhe betrachten, unschlüssig, ob sie sie kaufen sollte. » Ich meine– sie sind wunderbar! Danke! Aber… sind sie auch genau richtig? Für den eigentlichen Tag? «
» Nun, das ist deine Entscheidung « , sagte ich, griff nach meiner Bloody Mary und trank einen großen Schluck, um zu kaschieren, wie überrascht und verärgert ich war.
» Also Smaragde. « Sie hielt sich einen Ohrring ans Ohr und blickte nachdenklich zur Seite. » Ich finde sie entzückend! Aber « , sie hielt den Ohrring wieder hoch, damit er im diffusen Deckenlicht glitzerte, » Smaragd ist eigentlich nicht mein Stein. Ich denke, sie könnten vielleicht ein bisschen hart wirken, weißt du? Mit Weiß? Und meiner Haut? Eau de Nil! Mum kann auch kein Grün tragen. «
» Wie du meinst. «
» Oh, jetzt bist du sauer. «
» Nein, bin ich nicht. «
» Bist du doch! Ich habe deine Gefühle verletzt! «
» Nein, ich bin bloß müde. «
» Du scheinst ja wirklich grässliche Laune zu haben. «
» Bitte, Kitsey, ich bin müde. « Die Suche nach einer Wohnung war ein heldenhafter Kraftakt gewesen, ein frustrierender Prozess, den wir überwiegend gut gelaunt bewältigt hatten, obwohl die kahlen Räume und leeren Zimmer, in denen noch das zurückgelassene Leben anderer Menschen spukte, (bei mir) eine Menge hässlicher Echos aus meiner Kindheit wachriefen, Umzugskartons, Küchengerüche, dunkle Schlafzimmer, aus denen alles Leben verschwunden war und die, mehr noch, von einem ominösen (offenbar) nur für mich hörbaren Summen erfüllt waren, schwer atmende Vorahnungen, die auch die fröhliche Stimme der Makler kaum zerstreuen konnten, die zwischen glänzenden Oberflächen widerhallte, wenn sie herumliefen, Lichter einschalteten und auf die Edelstahlküche hinwiesen.
Und warum war das so? Nicht jede Wohnung, die wir besichtigt hatten, war aus tragischen Gründen frei geworden, wie ich anscheinend glaubte. Dass ich praktisch in allen Räumen Scheidung, Bankrott, Krankheit und Tod witterte, war offensichtlich wahnhaft– und wie sollten überdies die Probleme der Vormieter, real oder eingebildet, Kitsey und mir etwas anhaben?
» Verlier nicht den Mut « , sagte Hobie (der wie ich empfindlich auf Seelen von Räumen und Objekten reagierte, auf Emanationen, die die Zeit hinterlassen hatte), » betrachte es als Job. Als ob du eine Kiste mit kniffligen Stücken durchsehen würdest. Wenn du die Zähne zusammenbeißt und weitersuchst, wirst du die eine Perle finden. «
Und er hatte recht. Ich hatte es
Weitere Kostenlose Bücher