Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Kummer, und die geschmückten Gebäude, das Glitzern in den Fenstern, machten die bedrückende Traurigkeit nur noch schlimmer: dunkler Winterhimmel, eine graue Schlucht aus Juwelen und Pelzen und all der Macht und Melancholie des Reichtums.
    Was war mit mir los, fragte ich mich, während Kitsey und ich die Madison Avenue überquerten und ihr pinkfarbener Prada-Mantel ausgelassen im Getümmel wippte. Warum hielt ich es Kitsey vor, dass sie nicht von Gedanken an Andy und ihren Dad verfolgt wurde, sondern ihr Leben weiterlebte?
    Aber momentan– ich fasste Kitseys Ellenbogen und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt– war ich auch erleichtert und von meinen eigenen Sorgen abgelenkt. Es war acht Monate her, seit ich Reeve in dem Restaurant in Tribeca hatte sitzen lassen, und wegen der unechten Stücke aus meinen Verkäufen hatte sich bisher noch niemand gemeldet, obwohl ich voll und ganz darauf eingestellt war, den Fehler zuzugeben, sollte es jemand tun: unerfahren, neu im Geschäft, hier haben Sie Ihr Geld zurück, Sir, akzeptieren Sie meine Entschuldigung. Wenn ich nachts wach lag, beruhigte ich mich damit, dass ich, falls es wirklich hässlich werden sollte, kaum Spuren hinterlassen hatte: Ich hatte die Verkäufe nicht mehr als nötig dokumentiert und bei kleineren Objekten gegen Barzahlung Rabatt gegeben.
    Aber trotzdem. Aber trotzdem. Sobald ein Kunde die Sache publik machte, würde eine Lawine losgetreten. Und es wäre schon schlimm genug, wenn Hobies Ruf ruiniert würde, aber in dem Augenblick, in dem so viele Kunden Ansprüche geltend machten, dass ich ihnen das Geld nicht mehr erstatten konnte, würde es Klagen geben: Klagen, in denen Hobie als Miteigentümer des Geschäftes als Beklagter auftauchen würde. Es wäre schwer, ein Gericht davon zu überzeugen, dass er nicht gewusst hatte, was ich tat, vor allem bei einigen Verkäufen auf dem Niveau bedeutender Americana– und ich war mir nicht einmal sicher, dass Hobie sich, sollte es so weit kommen, angemessen verteidigen würde, wenn es bedeutete, mich alleine hängen zu lassen. Zugegeben: eine Menge der Leute, an die ich verkauft hatte, besaßen so viel Geld, dass es ihnen scheißegal war. Aber trotzdem. Aber trotzdem. Wann würde jemand beschließen, etwa die Unterseite der Hepplewhite-Esszimmerstühle zu betrachten, und feststellen, dass sie nicht alle gleich waren? Dass die Maserung nicht übereinstimmte, dass die Beine nicht zueinander passten? Oder einen Tisch von einem unabhängigen Gutachter schätzen lassen und erfahren, dass das verwendete Furnier in den 1770ern nicht nur nicht benutzt worden, sondern noch gar nicht erfunden war? Jeden Tag fragte ich mich, wann und wie der erste Betrug ans Licht kommen würde: ein Brief von einem Anwalt, ein Anruf der Abteilung für Amerikanische Möbel bei Sotheby’s, ein Innenarchitekt oder Sammler, der in den Laden stürmte, um mich zur Rede zu stellen, Hobie, der nach unten kam, hör zu, wir haben da ein Problem, hast du mal einen Moment?
    Ich wusste nicht, was passieren würde, falls die Ehe-zerstörerische Kunde meiner Verbindlichkeiten vor der Hochzeit bekannt werden sollte. Doch allein der Gedanke war mehr, als ich ertragen konnte. Vielleicht würde die Hochzeit gar nicht stattfinden. Aber– um Kitseys und ihrer Mutter willen– schien es sogar noch grausamer, wenn die Sache erst nachher ans Licht kam, zumal die Barbours nicht mehr annähernd so wohlhabend waren wie noch vor Mr. Barbours Tod. Es gab Liquiditätsprobleme. Das Geld war in einer Stiftung festgelegt. Mommy musste einige Angestellte auf Teilzeit reduzieren und die anderen entlassen. Und Daddy war– wie Platt mir anvertraut hatte, als er versuchte, mich für weitere Antiquitäten aus der Wohnung zu interessieren– am Ende ein bisschen durchgedreht und hatte mehr als fünfzig Prozent des Portfolios in die VistaBank investiert, ein Konglomerat von Handelsbanken, aus » sentimentalen Gründen « (Mr. Barbours Ur-Urgroßvater war Präsident einer der historischen Gründungsbanken in Massachusetts gewesen, die ihren Namen seit dem Zusammenschluss mit Vista jedoch längst verloren hatte). Leider hatte die VistaBank erst aufgehört, Dividende zu zahlen, und dann kurz vor Mr. Barbours Tod Konkurs angemeldet. Daher auch Mrs. Barbours drastisch gekürzte Spenden für wohltätige Einrichtungen, die sie einst so großzügig unterstützt hatte; daher Kitseys Job. Und Platts Lektorenposten in dem geschmackvollen kleinen Verlag brachte, wie er mich

Weitere Kostenlose Bücher