Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Belegung der Kirchen, der Unpässlichkeit gewisser unverzichtbarer Partygäste, irgendjemandes Regatta, Abgabetermin oder was auch immer. Wie diese Hochzeit sich zu einem so bedeutenden Anlass entwickeln konnte– eine mehrere hundert Personen umfassende Gästeliste, Kosten von etlichen Tausenden, ausgestattet und durchchoreographiert wie eine Broadway-Show–, wie sie sich zu einer solchen Inszenierung hochschrauben konnte, war mir deswegen nicht ganz klar. Ich wusste, dass eine außer Kontrolle geratene Hochzeit bisweilen der Brautmutter zugeschrieben wurde, aber in diesem Fall ließ sich die Schuld keinesfalls bei Mrs. Barbour festmachen, die man kaum aus ihrem Zimmer und von ihrem Stickkorb weglocken konnte, die keine Anrufe entgegen- und keine Einladungen annahm, nicht einmal mehr zum Frisör ging, sie, die sich früher bestimmt jeden zweiten Tag die Haare hatte machen lassen, ein fester Termin um elf, bevor sie zum Lunch ausging.
    » Mum wird sich freuen, was? « , hatte Kitsey geflüstert und mir mit ihrem spitzen kleinen Ellenbogen in die Rippen geboxt, als wir zurück zu Mrs. Barbours Zimmer eilten. Und die Erinnerung an Mrs. Barbours Freude, als sie die Neuigkeit erfuhr ( Sag du es ihr, hatte Kitsey geflüstert, sie wird besonders glücklich sein, wenn sie es von dir hört ), war ein Moment, den ich im Kopf immer wieder abspulen konnte, ohne seiner überdrüssig zu werden: ihr erstaunter Blick, das Entzücken, das sich ungeschützt in ihrem kühlen, müden Gesicht ausgebreitet hatte. Mit einer Hand fasste sie mich, mit der anderen Kitsey, aber dieses wunderschöne Lächeln– ich würde es nie vergessen– war für mich alles gewesen.
    Wer hätte geahnt, dass es in meiner Macht lag, irgendjemanden glücklich zu machen? Oder dass ich selbst so glücklich sein könnte? Meine Stimmungen waren die reinste Achterbahnfahrt; nachdem ich mich jahrelang abgekapselt und betäubt hatte, surrte und schwirrte mein Herz, eckte schleudernd an wie eine Biene unter einem Glas, alles war hell, stechend, verwirrend, verkehrt– aber es war clean im Gegensatz zu der abgestumpften Qual, die mich unter Drogen für Jahre gequält hatte wie ein fauler Zahn, der widerliche schmutzige Schmerz von etwas Verdorbenem. Die Klarheit war erfrischend, als hätte ich eine verschmierte Brille abgenommen, die alles verwischte, was ich sah. Der ganze Sommer war wie ein einziger Taumel: prickelnd, übergeschnappt, voller Energie, mit Gin und Krabben-Cocktails und dem belebenden Ploppen von Tennisbällen. Und alles, was ich denken konnte, war Kitsey, Kitsey, Kitsey!
    Und vier Monate waren vergangen, schon war Dezember, frische Morgen und Weihnachtsgeläut in der Luft; und Kitsey und ich waren verlobt und wollten heiraten, und wie viel Glück hatte ich, nicht wahr?, doch obwohl alles zu perfekt war, Herzen und Blumen, der Schlussakt eines lustigen Musicals, war mir elend zumute. Der frische Wind der Energie, von dem ich den ganzen Sommer über getragen wurde, hatte mich Mitte Oktober unsanft in einen Nieselregen aus Traurigkeit fallen lassen, der sich endlos in alle Richtungen erstreckte: Mit einigen wenigen Ausnahmen (Kitsey, Hobie, Mrs. Barbour) konnte ich keine Menschen um mich ertragen, konnte mich nicht darauf konzentrieren, was irgendjemand sagte, konnte nicht mit Kunden sprechen, konnte meine Möbel nicht auszeichnen, konnte nicht U-Bahn fahren, jede menschliche Aktivität schien mir sinnlos, unbegreiflich, ein schwarz wimmelnder Ameisenhügel in der Wildnis, kein Quäntchen Licht, wohin ich auch blickte. Die Antidepressiva, die ich seit acht Wochen pflichtschuldig schluckte, hatten kein bisschen geholfen, genauso wenig wie die davor (aber ich hatte alle probiert; offenbar gehörte ich zu den zwanzig Prozent Unglücklichen, die nicht die Gänseblümchenwiesen und Schmetterlinge kriegten, sondern massive Kopfschmerzen und Selbstmordgedanken); und obwohl sich das Dunkel manchmal gerade genug lichtete, um meine Umgebung zu erkennen, vertraute Umrisse, die sich verfestigten wie Schlafzimmermöbel im Morgengrauen, war die Linderung immer nur vorübergehend, weil es nie wirklich hell wurde und alles wieder in Dunkelheit versank, bevor ich mich orientieren konnte, und, schwarze Tinte in den Augen, in der Finsternis herumkroch.
    Warum genau ich mich so verloren fühlte, war mir nicht klar. Ich war nicht über Pippa hinweg, und das wusste ich, würde vielleicht nie über sie hinweg sein, und das war einfach etwas, womit ich leben musste, die

Weitere Kostenlose Bücher