Der Distelfink
für mich als dreizehnjährigen Nerd (sie hatte schmollend die Augen verdreht, wenn sie beim Abendessen neben mir sitzen musste). Und noch mehr genoss ich die unverhohlene Verblüffung von Menschen, die uns als Kinder gekannt hatten: Du? Und Kitsey Barbour? Wirklich? Sie? Ich liebte den Spaß und die Verruchtheit, die schiere Unwahrscheinlichkeit: in ihr Zimmer zu schleichen, wenn ihre Mutter eingeschlafen war– dasselbe Zimmer, das sie als Kind vor mir verschlossen hatte, dieselbe pinkfarbene Seidentapete, unverändert seit den Tagen von Andy, handgeschriebene Schilder BETRETEN VERBOTEN , NICHT STÖREN –, wenn ich sie ins Zimmer schob, Kitsey die Tür abschloss, einen Finger auf meinen Mund legte und die Kontur meiner Lippen nachfuhr, jenes erste herrliche Stolpern in Richtung ihres Bettes, pst, Mommy schläft!
Jeden Tag hatte ich reichlich Anlass, mich daran zu erinnern, wie glücklich ich war. Kitsey war nie müde, Kitsey war nie unglücklich. Sie war gefällig, begeistert, liebevoll. Sie war wunderschön mit einer Art leuchtenden zuckerweißen Aura, die die Leute auf der Straße die Köpfe wenden ließ. Ich bewunderte, wie kontaktfreudig sie war, wie der Welt zugewandt, amüsant und spontan– » ein kleines Wirrköpfchen! « , wie Hobie sie sehr zärtlich nannte–, was für ein frischer Wind! Jeder liebte sie. Und mir war durchaus bewusst, dass es bei all ihrer ansteckenden Leichtigkeit des Herzens eine äußerst nebensächliche Kritik war, dass Kitsey von nichts besonders bewegt schien. Selbst die gute alte Carole Lombard konnte rührselige Tränen über Exfreunde, misshandelte Haustiere in den Nachrichten oder die Schließung alter Studentenkneipen in Chicago vergießen, wo sie aufgewachsen war. Aber anscheinend fand Kitsey nie irgendetwas besonders drängend, emotional oder auch nur überraschend. Darin ähnelte sie ihrer Mutter und ihrem Bruder– wobei Mrs. Barbours und Andys Zurückhaltung irgendwie vollkommen anders war als Kitseys Art, eine flapsige oder banale Bemerkung zu machen, wenn jemand ein ernstes Thema ansprach. ( » Kein Spaß « , hatte ich sie halb scherzhaft mit gekräuselter Nase seufzen hören, wenn Leute sich nach ihrer Mutter erkundigten.) Und ich– selbst morbide und krank, wenn ich nur daran dachte– achtete auch auf irgendein Anzeichen von Trauer um Andy oder ihren Dad, und es begann, mich zu stören, dass ich keins entdeckte. Hatte ihr Tod sie überhaupt nicht getroffen? Sollten wir nicht irgendwann zumindest darüber reden? Auf einer Ebene bewunderte ich ihre Tapferkeit: Kinn hoch und angesichts der Tragödie weitermachen oder was auch immer. Vielleicht verbarg sie ihre Gefühle bloß wirklich sehr gut, hatte sie tief in sich verschlossen und eine meisterliche Fassade geschaffen. Aber hinter jener glitzernden blauen Seichtheit– auf den ersten Blick so verführerisch– hatte sich nach wie vor keine Tiefe aufgetan, sodass ich manchmal das beunruhigende Gefühl hatte, in kniehohem Wasser herumzuwaten auf der Suche nach einer abschüssigen Stelle, die tief genug war, um darin zu schwimmen.
Kitsey klopfte auf mein Handgelenk. » Was? «
» Barneys. Ich meine, wo wir schon hier sind? Vielleicht sollten wir einen Blick in die Haushaltswarenabteilung werfen? Ich weiß, Mutter wäre nicht begeistert, wenn wir unsere Hochzeitsliste dort einrichten, aber es könnte doch ganz witzig sein, für den Alltag etwas weniger Traditionelles zu nehmen. «
» Nein « , ich griff nach meinem Glas und trank es mit einem Schluck leer, » ich muss wirklich nach Downtown, wenn das okay ist. Ich soll einen Kunden treffen. «
» Kommst du heute Abend noch vorbei? « Kitsey teilte sich mit zwei Mitbewohnerinnen eine Wohnung in der Upper Eastside, in der Nähe des Büros der Kunstorganisation, für die sie arbeitete.
» Ich weiß noch nicht. Vielleicht muss ich noch mit dem Kunden zu Abend essen. Aber wenn es geht, winde ich mich da raus. «
» Cocktails? Bitte? Oder wenigstens einen Drink nach dem Abendessen? Alle werden so enttäuscht sein, wenn du dich nicht wenigstens ganz kurz blicken lässt. Charles und Bette… «
» Ich versuche es. Versprochen. Vergiss die nicht. « Ich wies mit dem Kopf auf die Ohrringe, die immer noch auf dem Tischtuch lagen.
» Oh! Nein! Natürlich nicht! « , sagte sie schuldbewusst, nahm sie und warf sie in ihre Handtasche wie eine Handvoll loses Kleingeld.
III
Als wir gemeinsam hinaus in das Weihnachtsgedränge traten, war ich unsicher auf den Beinen und voller
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