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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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lief immer weiter, um den Kopf freizubekommen. Aschweiße Apartmentblocks. Horden von Menschen auf den Straßen, beleuchtete Weihnachtsbäume, die hoch oben auf Penthouse-Balkonen funkelten, süßliche Musik, die aus den Läden plätscherte, und während ich mir einen Weg durch die Massen bahnte, hatte ich das eigenartige Gefühl, ich wäre bereits tot und würde in einem Bürgersteiggrau wandeln, so endlos, dass die Straße oder selbst die ganze Stadt es nicht umfassen konnten, und meine Seele löste sich von meinem Körper und trieb unter anderen Seelen in einem Nebel irgendwo zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Walk, Don’t Walk, einzelne Fußgänger, seltsam isoliert, einsam, leere Gesichter, die stur geradeaus starrten, Stöpsel in den Ohren, lautlos die Lippen bewegten, schalldicht abgedämmt gegen den Lärm der Stadt unter einem erdrückenden granitfarbenen Himmel, der die Straßengeräusche dämpfte, Müll und Zeitungen, Beton und Nieselregen, ein schmutziges Wintergrau, schwer wie Stein.
    Nachdem ich der Bar erfolgreich entkommen war, überlegte ich, dass ich mir einen Film ansehen könnte– vielleicht würde die Einsamkeit eines Kinos mich wieder auf Vordermann bringen, irgendeine leere Nachmittagsvorstellung in der Nähe, in der ein Film gezeigt wurde, der demnächst aus den Kinos verschwinden würde. Aber als ich benommen und vor Kälte schniefend zu dem Kino an der Second Avenue, Ecke 32nd kam, hatte der französische Cop-Film, den ich sehen wollte, schon angefangen, genau wie der Identitätsverwechslungs-Thriller. Zur Auswahl standen nur noch eine Reihe von Weihnachtsfilmen und unerträgliche romantische Komödien: Plakate mit durchnässten Bräuten, sich prügelnden Brautjungfern, einem verzweifelten Dad mit Weihnachtsmannmütze und zwei plärrenden Zwillingsbabys im Arm.
    Die Taxis beendeten allmählich ihre Schicht. Hoch über der Straße brannten einsame Lichter in Büros und Wohntürmen. Ich wandte mich ab und ließ mich weiter Richtung Downtown treiben, ohne eine klare Vorstellung, wohin ich ging und was ich dort wollte, und hatte beim Gehen das merkwürdig reizvolle Gefühl, mich aufzulösen, mich Faden für Faden aufzuribbeln, Lumpen fielen von mir ab, während ich die 32nd Street überquerte, mit dem Strom der Rushhour-Passanten schwamm und mich von einem Moment zum nächsten wehen ließ.
    Im nächsten Kino zehn oder zwölf Blocks weiter südlich war es die gleiche Geschichte: Der CIA -Film hatte schon angefangen, genau wie die gut besprochene Biographie einer Starschauspielerin aus den 1940ern; der französische Cop-Film fing erst in eineinhalb Stunden an, und wenn ich nicht einen Psychopathen-Thriller oder ein erschütterndes Familiendrama sehen wollte, und das wollte ich nicht, gab es nur noch mehr Bräute und Junggesellenabschiede und Weihnachtsmannmützen und Pixar.
    Bei dem Kino in der 17th Street blieb ich schon gar nicht mehr stehen, sondern lief einfach weiter. Irgendwie war ich, als ich von einer dunklen Strömung, die mich aus dem Nichts getroffen hatte, über den Union Square geweht wurde, orakelhaft zu dem Schluss gekommen, Jerome anzurufen. In der Idee lag eine mystische Freude, eine heilige Kasteiung. Ich hatte seit Monaten keine Drogen genommen, aber aus irgendeinem Grund erschien mir ein Abend, an dem ich bewusstlos in meinem Zimmer bei Hobie vor mich hin dämmerte, zunehmend wie eine absolut vernünftige Reaktion auf die Weihnachtsbeleuchtung, die vorweihnachtlichen Massen, das unaufhörliche Gebimmel mit seinem morbiden Beerdigungsklang und Kitseys bonbonrosafarbenes Notizbuch mit Registereinteinteilung aus Kate’s Paperie: MEINE BRAUTJUNGFERN MEINE GÄSTE MEINE SITZORDNUNG MEINE BLUMEN MEINE HÄNDLER MEINE CHECKLISTE MEIN CATERING
    Ich machte hastig einen Schritt zurück– die Ampel war umgesprungen, und ich wäre fast vor ein Auto gelaufen–, stolperte und rutschte beinahe aus. Alles Grübeln über meinen irrationalen Horror vor einer großen öffentlichen Hochzeit war sinnlos– beengte Räume, Platzangst, plötzliche Bewegungen, überall Trigger, die eine Phobie auslösen konnten. Nur U-Bahn-Fahren machte mir aus irgendeinem Grund nicht so viel aus, es hatte mehr etwas mit vollen Gebäuden zu tun, mit der permanenten Erwartung eines Unglücks, einem Rauchwölkchen, dem schnell rennenden Mann am Rande der Menge; ich ertrug es nicht einmal, in einem Kino sitzen, in dem mehr als zehn oder fünfzehn Leute waren, sondern machte mit meinem schon bezahlten Ticket kehrt

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