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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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nicht vollständig und bündig mit der Wand abschloss– jemand hatte sie nicht richtig zugezogen, oder das Schloss hatte wegen des Stromausfalls nicht richtig funktioniert, ich wusste es nicht. Trotzdem war es nicht leicht, sie zu öffnen; sie war schwer und aus Stahl, und ich musste mit aller Kraft daran ziehen. Plötzlich bewegte sie sich mit einem pneumatischen Seufzen, so kapriziös, dass ich fast das Gleichgewicht verlor.
    Ich zwängte mich hindurch und gelangte in einen dunklen Büroflur mit einer sehr viel niedrigeren Decke. Die Notbeleuchtung war viel schwächer als in den Ausstellungsräumen, und meine Augen brauchten ein Weilchen, um sich daran zu gewöhnen.
    Der Flur schien sich meilenweit vor mir zu erstrecken. Ängstlich schlich ich mich voran und spähte in Büros, deren Türen zufällig offen standen. Cameron Geisler, Archivar. Miyako Fujita, Archivassistentin. Schubladen standen offen, Schreibtischstühle waren zurückgeschoben. In der Tür eines Büros lag ein hochhackiger Damenschuh auf der Seite.
    Die Atmosphäre der Verlassenheit war unsagbar gespenstisch. Mir war, als hörte ich in weiter Ferne Polizeisirenen, vielleicht sogar Walkie-Talkies und Hunde, aber meine Ohren klangen von der Explosion so laut, dass ich es mir vielleicht auch nur einbildete. Es beunruhigte mich jetzt immer mehr, dass ich keine Feuerwehrleute gesehen hatte, keine Polizei, keine Wärter– genau genommen überhaupt keine lebende Menschenseele.
    In den Diensträumen war es nicht dunkel genug für die kleine Taschenlampe, aber es war nicht annähernd hell genug, um gut zu sehen. Ich befand mich in einer Art Akten- oder Lagerbereich; die Büros waren vom Boden bis zur Decke mit Regalen gesäumt, und auf Borden aus Metall standen Postkörbe aus Plastik und Pappkartons. In dem schmalen Korridor fühlte ich mich nervös und eingeengt, und das Echo meiner eigenen Schritte klang so verrückt, dass ich ein oder zwei Mal stehen blieb und mich umdrehte, um zu sehen, ob mir jemand folgte.
    » Hallo? « , fragte ich zögernd und warf einen Blick in einige der Zimmer, an denen ich vorbeikam. Manche Büros waren modern und sparsam eingerichtet, andere waren vollgestopft und sahen schmutzig aus mit ihren unordentlichen Papier- und Bücherstapeln.
    Florens Kauner, Abteilung für Musikinstrumente. Maurice Orabi-Roussel, Islamische Kunst. Vittoria Gabetti, Textilien. Ich kam an einem höhlenartigen dunklen Raum mit einem langen Arbeitstisch vorbei, auf dem nicht zusammenpassende Stoffstücke ausgebreitet lagen wie die Teile eines Puzzles. Am hinteren Ende des Raums stand ein Gewirr von rollenden Kleiderständern, an denen unzählige Kleidersäcke aus Plastik hingen; sie sahen aus wie die Ständer neben den Warenaufzügen bei Henri Bendel oder Bergdorf Goodman.
    Der Korridor teilte sich T-förmig, und ich schaute hin und her und wusste nicht, welchen Weg ich nehmen sollte. Ich roch Bohnerwachs, Terpentin und Chemikalien, einen scharfen Hauch von Rauch. Büros und Werkstätten reihten sich in allen Richtungen ins Endlose: ein geschlossenes geometrisches Netz, starr und eigenschaftslos.
    Links flackerte eine Deckenlampe. Sie brummte und stotterte in knisternden Zuckungen, und in ihrem bebenden Schein sah ich einen Trinkbrunnen weiter hinten im Gang.
    Ich rannte darauf zu– so schnell, dass meine Füße beinahe unter mir wegrutschten–, presste den Mund an die Düse und schluckte so schnell so viel eiskaltes Wasser herunter, dass sich ein stechender Schmerz in meine Schläfe bohrte und ich einen Schluckauf bekam. Ich wusch mir das Blut von den Händen, spritzte mir Wasser in die wunden Augen, hielt den Kopf in den Strahl. Winzige Glassplitter– fast unsichtbar– fielen klingelnd in das Becken und lagen glitzernd auf dem Stahl wie Nadeln aus Eis.
    Ich lehnte mich an die Wand. Von den Leuchtstoffröhren an der Decke– flimmernd und spuckend, an und aus– wurde mir flau. Mit Mühe richtete ich mich wieder auf und ging weiter, ein bisschen wacklig in dem instabilen Flirren. In dieser Richtung sah es entschieden industriell aus: Holzpaletten, ein flacher Schubkarren– man spürte, dass hier Dinge in Kisten bewegt und gelagert wurden. Wieder kam ich an einer Einmündung vorbei, wo der glatte Boden eines unbeleuchteten Flurs im Dunkel verschwand. Ich wollte eben daran vorbei- und weitergehen, als ich am Ende des Ganges ein rotes Leuchten sah: EXIT .
    Ich stolperte, fiel über meine eigenen Füße, rappelte mich wieder hoch, und noch immer hatte

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