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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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metallisch glänzendem Goldstoff drapiert waren, und aßen und rauchten und schrien und klopften einander auf den Rücken. Dahinter, an den tiefrot lackierten Wänden, hingen Weihnachtsgirlanden und Festtagsdekorationen aus der Sowjet-Ära aus Drähten mit Glühlampen und buntem Aluminium– Hähne, nistende Vögel, rote Sterne, Raumschiffe und Hammer-und-Sichel-Plaketten mit kitschigen Slogans in kyrillischer Schrift ( Glückliches Neues Jahr, geliebter Stalin )– überbordend und scheinbar provisorisch aufgehängt. Boris (selbst ziemlich hinüber: Er hatte auf dem Rücksitz aus einer Flasche getrunken) ließ einen Arm auf meiner Schulter liegen und stellte mich Jung und Alt auf Russisch als seinen Bruder vor, was die Leute anscheinend wörtlich nahmen, wenn ich es danach beurteilte, wie viele Männer und Frauen mich umarmten und küssten und versuchten, mir Wodka aus Magnumflaschen in kristallenen Eiskübeln einzuschenken.
    Irgendwie schafften wir es schließlich, nach hinten zu kommen: schwarzsamtene Vorhänge, bewacht von einem kahlrasierten vipernäugigen Schläger mit kyrillischen Buchstaben auf den Unterkiefer tätowiert. Im Hinterzimmer dröhnte stampfende Musik, die Luft war dick von Schweiß, Aftershave, Gras und Cohiba-Rauch. Armani, Jogginganzüge, Diamanten und Platin-Rolexe. Ich hatte noch nie so viele Männer mit so viel Gold gesehen: goldene Ringe, goldene Ketten, goldene Schneidezähne. Das alles war wie ein fremdländischer, verwirrender, hell glitzernder Traum, und ich war in dem unbehaglichen Stadium der Betrunkenheit, in dem ich die Augen nicht mehr scharfstellen, sondern nur noch nicken und schwanken und mich von Boris durch das Gedränge schleifen lassen konnte. Irgendwann, tief in der Nacht, tauchte Myriam wieder auf wie ein Schatten. Sie begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange, der sich ernst und spukhaft anfühlte, in der Zeit erstarrt wie eine zeremonielle Geste, und dann verschwanden sie und Boris und ließen mich an einem Tisch voller sturzbetrunkener, kettenrauchender Russen zurück, die allesamt zu wissen schienen, wer ich war ( » Fjodor! « ): Sie klopften mir auf die Schulter, schenkten mir Wodka ein, boten mir etwas zu essen und Marlboros an und brüllten liebenswürdig auf Russisch auf mich ein, anscheinend ohne eine Antwort zu erwarten…
    Hand auf meiner Schulter. Jemand nahm mir die Brille ab. » Hallo? « , sagte ich zu der fremden Frau, die ganz plötzlich auf meinem Schoß saß.
    Schanna. Hi, Schanna! Was machst du inzwischen? Nicht so viel. Und du? Porno-Star, Studiobräune, chirurgisch vergrößerte Titten, die oben aus dem Kleid quollen. Wahrsagerei liegt bei mir in der Familie: Darf ich in deinen Händen lesen? Hey, na klar: Ihr Englisch war ziemlich gut, aber sie war schwer zu verstehen, weil es in dem Club so laut war.
    » Ich sehe, du bist von Natur aus Philosoph. « Sie strich mit der barbie-pinkfarbenen Spitze eines Fingernagels über meine Handfläche. » Sehr, sehr intelligent. Viele Höhen und Tiefen– hast im Leben schon ein bisschen von allem gemacht. Aber du bist einsam. Du träumst davon, ein Mädchen zu finden und den Rest deines Lebens mit ihr zusammen zu sein. Hab ich recht? «
    Dann kam Boris zurück, allein. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Es folgte eine kurze, amüsierte Unterhaltung auf Ukrainisch zwischen ihm und meiner neuen Freundin, die damit endete, dass sie mir meine Brille wieder aufsetzte und ging, nicht ohne vorher noch eine Zigarette von Boris zu schnorren und ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.
    » Kennst du sie? « , fragte ich Boris.
    » Noch nie im Leben gesehen « , sagte Boris und zündete sich selbst eine Zigarette an. » Wir können jetzt gerne gehen. Juri wartet draußen. «
    VIII
    Inzwischen war es spät geworden. Der Rücksitz des Autos war eine Wohltat nach dem Durcheinander im Club (intimes Licht von der Armaturenbeleuchtung, leise Radiomusik), und wir fuhren stundenlang durch die Gegend, während Poptschik bei Boris auf dem Schoß lag und fest schlief. Wir lachten und redeten, und Juri streute mit lauter, heiserer Stimme Geschichten über seine Jugend in Brooklyn ein, in den Sozialwohnungsblocks, die er » The Bricks « nannte. Boris und ich tranken warmen Wodka aus der Flasche und schnupften Koks aus dem Beutel, den er aus seiner Manteltasche holte– ab und zu reichte Boris ihn nach vorn zu Juri. Trotz der Klimaanlage war es glühend heiß im Wagen. Boris’ Gesicht war verschwitzt, und seine Ohren

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