Der Distelfink
herauf. Undeutliche Stimmen drangen aus der Nachbarwohnung herüber, abstraktes dumpfes Stampfen, und jemand öffnete und schloss Schranktüren. Es war spät; die Leute kamen aus dem Büro, ließen ihre Aktentaschen zu Boden fallen, begrüßten ihre Katzen und Hunde und Kinder, schalteten die Nachrichten ein, bereiteten sich darauf vor, zum Abendessen auszugehen. Wo war sie? Ich versuchte mir alle möglichen Gründe einfallen zu lassen, weshalb sie aufgehalten worden sein könnte, und eigentlich fiel mir keiner ein– obwohl, wer konnte das wissen, vielleicht war irgendwo eine Straße abgesperrt worden, sodass sie nicht nach Hause kommen konnte. Aber hätte sie dann nicht angerufen?
Vielleicht hatte sie ihr Telefon verloren, dachte ich. Vielleicht war es kaputtgegangen. Vielleicht hatte sie es jemandem gegeben, der es dringender brauchte.
Die Stille in der Wohnung war zermürbend. Das Wasser sang in den Leitungen, und der Wind ließ die Jalousien trügerisch rasseln. Weil ich sinnlos auf ihrer Bettkante saß und das Gefühl hatte, ich müsste etwas tun, rief ich sie noch einmal an und hinterließ noch eine Nachricht, und diesmal konnte ich das Zittern meiner Stimme nicht mehr unterdrücken. Mom, ich hab vergessen zu sagen, ich bin zu Hause. Bitte ruf an, sobald du kannst, okay? Und dann rief ich für alle Fälle in ihrem Büro an und hinterließ auch da eine Nachricht auf der Mailbox.
Eine tödliche Kälte breitete sich in meiner Brust aus, als ich ins Wohnzimmer zurückging. Dort blieb ich einen Augenblick stehen und ging dann zu der Pinnwand in der Küche, um nachzusehen, ob sie mir dort eine Nachricht hinterlassen hatte, obwohl ich schon genau wusste, dass sie es nicht getan hatte. Zurück ins Wohnzimmer, und dort schaute ich durch das Fenster hinaus auf den Straßenverkehr. Konnte sie noch in den Drugstore oder in den Deli gelaufen sein, und hatte sie mich nur nicht wecken wollen? Halb wollte ich auf die Straße hinuntergehen und sie dort suchen, aber es war verrückt zu glauben, ich könnte sie im Gedränge des Berufsverkehrs finden, und außerdem hatte ich Angst, ihren Anruf zu verpassen, wenn ich die Wohnung verließe.
Die Zeit für den Schichtwechsel der Portiers war vorbei. Als ich unten anrief, hoffte ich, Carlos zu erreichen (den ältesten und würdevollsten der Portiers), oder besser noch José, einen dicken, fröhlichen Kerl aus der Dominikanischen Republik. Aber ewig meldete sich überhaupt niemand, bis schließlich eine dünne, stockende, ausländisch klingende Stimme sagte: » Hallo? «
» Ist José da? «
» Nein « , sagte die Stimme. » Nein. Rufen wieder an. «
Ich begriff, dass es der verschreckt aussehende Asiat mit der Schutzbrille und den Gummihandschuhen war, der die Bohnermaschine bediente und den Müll wegbrachte und andere Hilfsarbeiten im Haus erledigte. Die Portiers (die seinen Namen anscheinend genauso wenig kannten wie ich) nannten ihn den » neuen Typen « und meckerten über die Hausverwaltung, weil sie einen Hilfsarbeiter einstellte, der weder Englisch noch Spanisch sprach. Alles, was im Haus schiefging, schoben sie ihm in die Schuhe: Der neue Typ hatte den Gehweg nicht ordentlich freigeschaufelt, der neue Typ hatte die Post nicht dahin gelegt, wo sie hingehörte, und er hatte den Hinterhof nicht so sauber gehalten, wie er es tun sollte.
» Rufen später wieder an « , wiederholte der neue Typ hoffnungsvoll.
» Nein, warten Sie! « , rief ich, als er auflegen wollte. » Ich muss mit jemandem sprechen. «
Eine verwirrte Pause.
» Bitte, ist sonst jemand da? « , fragte ich. » Es ist ein Notfall. «
» Okay « , sagte die Stimme wachsam und mit einer aufwärtsgerichteten Betonung, die mich hoffen ließ. In der Stille hörte ich ihn angestrengt atmen.
» Hier ist Theo Decker « , sagte ich. » In 14C? Ich hab Sie schon oft unten gesehen. Meine Mutter ist nicht nach Hause gekommen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. «
Noch eine lange, ratlose Pause. » 14C « , wiederholte er dann, als sei dies der einzige Teil des Satzes, den er verstanden hatte.
» Meine Mutter « , sagte ich noch einmal. » Wo ist Carlos? Ist denn niemand da? «
» Sorry, danke « , antwortete er in panischem Ton und legte auf.
Ich tat es ihm gleich und war sehr aufgeregt. Einen Augenblick lang blieb ich wie erstarrt mitten im Wohnzimmer stehen, und dann ging ich zum Fernseher und schaltete ihn ein. In der Stadt war großes Durcheinander. Die Brücken zu den äußeren Stadtteilen waren
Weitere Kostenlose Bücher