Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
ein inneres Echo des Klingens in meinen Ohren, aber schlimmer war, dass ich immer noch das Blut riechen konnte und den Salz- und Zinngeschmack im Mund hatte. (Das sollte noch tagelang so bleiben, aber das wusste ich da noch nicht.)
    Während ich an der Schublade herumfummelte, überlegte ich, ob ich jemanden anrufen sollte, und wenn ja, wen. Meine Mutter war ein Einzelkind. Ich hatte zwar formal gesehen einen Satz Großeltern– den Dad und die Stiefmutter meines Vaters in Maryland–, aber ich wusste nicht, wie ich sie erreichen konnte. Das Verhältnis zwischen meinem Dad und seiner Stiefmutter Dorothy, einer ostdeutschen Einwanderin, die sich vor ihrer Ehe mit meinem Großvater ihren Lebensunterhalt als Büroreinigungskraft verdient hatte, war gerade noch höflich zu nennen (mein Dad, immer ein raffinierter Schauspieler, machte sie auf grausam komische Weise nach: eine Art batteriegetriebene Hausfrau mit zusammengepressten Lippen, ruckhaften Bewegungen und einem Akzent wie Curd Jürgens in Luftschlacht um England ). Aber auch wenn die Abneigung meines Dads gegen Dorothy schon groß genug war, galt seine Hauptfeindschaft doch Grandpa Decker, einem großen, fetten, beängstigend aussehenden Mann mit roten Wangen und schwarzen (ich glaube, gefärbten) Haaren, der dauernd Westen und grelle Karos trug und es für richtig hielt, Kinder mit dem Gürtel zu verprügeln. Kein Picknick war der Ausdruck, den ich vor allen anderen mit Grandpa Decker assoziierte. Mein Dad sagte beispielsweise: » Das Leben mit diesem Mistkerl war kein Picknick « , oder: » Glaub mir, das Abendbrot war nie ein Picknick bei uns zu Hause. « Ich hatte Grandpa Decker und Dorothy nur zweimal im Leben gesehen, in angespannten und aufgeladenen Situationen, in denen meine Mutter im Mantel und mit der Handtasche auf dem Schoß vorgebeugt auf dem Sofa saß und sich tapfer bemühte, ein Gespräch zu führen, das stolpernd im Treibsand versackte. Vor allem erinnerte ich mich an das gezwungene Lächeln allenthalben, an den stickigen Geruch von Pfeifentabak mit Kirscharoma und an Grandpa Deckers nicht besonders freundliche Warnung, ich solle meine klebrigen kleinen Pfoten von seiner Modelleisenbahn lassen (einem Alpendorf, das ein ganzes Zimmer in ihrem Haus in Anspruch nahm und nach seinen Angaben mehrere zehntausend Dollar wert war).
    Jetzt hatte ich es geschafft, die Klinge des Buttermessers zu verbiegen, indem ich es allzu kräftig in die seitliche Ritze neben der verklemmten Schublade gestoßen hatte. Es war eins der wenigen guten Messer meiner Mutter, ein silbernes, das ihrer Mutter gehört hatte. Unverdrossen versuchte ich es wieder geradezubiegen; ich nagte an der Unterlippe und konzentrierte meine gesamte Willenskraft auf diese Arbeit, denn die ganze Zeit über blitzten hässliche Bilder des Tages auf und flatterten mir ins Gesicht. Nicht daran zu denken war so, als wollte ich nicht an eine lila Kuh denken. Ich konnte dann immer nur an die lila Kuh denken.
    Unvermittelt rutschte die Schublade heraus. Ich starrte das Durcheinander an: verrostete Batterien, eine kaputte Käsereibe, die Schneeflocken-Keksförmchen, die meine Mutter seit meiner Einschulung nicht mehr benutzt hatte, zusammengepfercht mit zerfetzten alten Take-away-Speisekarten von Viand und Shun Lee Palace und Delmonico’s. Ich ließ die Schublade weit offen– damit sie sie als Erstes sähe, wenn sie hereinkäme–, wanderte hinüber zur Couch, wickelte mich in eine Decke und blieb aufrecht sitzen, damit ich die Wohnungstür im Auge behalten konnte.
    Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Lange Zeit saß ich fröstelnd und mit roten Augen im Lichtschein des Fernsehers. Bläuliche Schatten flackerten unbehaglich auf und ab. Eigentlich gab es nichts Neues; immer wieder kamen nächtliche Aufnahmen des Museums (das jetzt völlig normal aussah, abgesehen von dem über die Bürgersteige gespannten gelben Flatterband, den bewaffneten Posten vor dem Eingang und den Rauchfetzen, die gelegentlich vom Dach in den flutlichtbeleuchteten Himmel hinaufwehten).
    Wo war sie? Warum war sie noch nicht zu Hause? Sie würde eine gute Erklärung haben; das alles würde sich in nichts auflösen, unddie Sorgen, die ich mir jetzt machte, würden völlig albern aussehen.
    Um sie aus meinen Gedanken zu vertreiben, konzentrierte ich mich angestrengt auf ein Interview vom Abend, das jetzt wiederholt wurde. Ein bebrillter Kurator mit Tweedjackett und Fliege redete– sichtlich erschüttert– davon, wie unerhört es

Weitere Kostenlose Bücher