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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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geschlossen, was erklärte, warum Carlos und José nicht zum Dienst hatten kommen können, aber nichts von dem, was ich sah, half mir zu verstehen, warum meine Mutter aufgehalten wurde. Ich sah eine Nummer, die man anrufen konnte, wenn jemand vermisst wurde. Ich schrieb sie auf ein Stück Zeitungspapier und vereinbarte mit mir selbst, dort anzurufen, wenn sie nicht in genau einer halben Stunde zu Hause wäre.
    Als ich die Nummer notiert hatte, ging es mir besser. Aus irgendeinem Grund war ich sicher, der Akt des Niederschreibens würde auf magische Weise bewirken, dass sie zur Tür hereinkam. Aber als fünfundvierzig Minuten vergangen waren und schließlich eine Stunde verstrichen und sie immer noch nicht erschienen war, knickte ich schließlich ein und wählte die Nummer (und ging dabei auf und ab und behielt nervös den Fernseher im Auge, die ganze Zeit, während ich darauf wartete, dass jemand sich meldete, die ganze Zeit, während ich in der Warteschleife war, und ich sah Werbespots für Matratzen, Werbespots für Stereoanlagen ohne Versandkosten und Bonitätsprüfung). Endlich meldete sich eine forsche Frauenstimme, sehr geschäftsmäßig. Sie nahm den Namen meiner Mutter und meine Telefonnummer entgegen, teilte mir mit, meine Mutter stehe » nicht auf ihrer Liste « , aber man werde mich zurückrufen, wenn der Name auftauchen sollte. Erst als ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass ich hätte fragen sollen, von was für einer Liste sie da redete. Nach einer endlosen Zeit des Zweifelns und Nachdenkens, in der ich unter Qualen durch alle vier Zimmer lief, Schubladen öffnete, Bücher in die Hand nahm und wieder hinlegte und den Computer meiner Mutter einschaltete, um festzustellen, was ich mit einer Google-Suche herausfinden könnte (nichts), rief ich noch einmal an, um nachzufragen.
    » Sie steht nicht auf der Liste der Todesopfer « , sagte die zweite Frau, mit der ich jetzt sprach, und es klang merkwürdig beiläufig. » Oder der Verletzten. «
    Mein Herz machte einen Satz. » Dann geht es ihr gut? «
    » Ich will damit sagen, wir haben überhaupt keine Informationen. Haben Sie vorhin Ihre Nummer hinterlassen, damit wir Sie zurückrufen können? «
    » Ja « , sagte ich, » man hat mir versprochen zurückzurufen. «
    » Kostenlos geliefert und aufgestellt « , sagte der Fernseher. » Und vergessen Sie nicht, nach unserer zinslosen Finanzierung über sechs Monate zu fragen. «
    » Viel Glück « , sagte die Frau und legte auf.
    Die Stille in der Wohnung war unnatürlich; nicht einmal das laute Gerede im Fernsehen konnte sie vertreiben. Einundzwanzig Menschen waren gestorben, Dutzende weitere verletzt. Vergebens versuchte ich mich mit dieser Zahl zu beruhigen: Einundzwanzig Menschen, das war doch gar nicht so schlimm, oder? Einundzwanzig Leute bedeuteten ein spärlich besetztes Kino, selbst für einen Bus war das nicht viel. Drei Leute weniger als in meinem fortgeschrittenen Englischkurs. Aber schon bald überkamen mich neue Zweifel und Ängste, und nur mit Mühe konnte ich mich beherrschen, nicht aus der Wohnung zu stürmen und ihren Namen zu rufen.
    So gern ich auch auf die Straße hinauslaufen und sie suchen wollte, ich wusste doch, dass ich in der Wohnung bleiben musste. Wir würden uns zu Hause wiedertreffen, das war die Absprache, die in Stein gemeißelte Verabredung seit der Grundschule, als ich mit einem Buch über Vorbereitungsmaßnahmen zum Katastrophenschutz aus der Schule gekommen war, in dem Cartoon-Ameisen mit Staubmasken Vorräte sammelten und sich auf irgendeinen nicht genauer beschriebenen Notfall vorbereiteten. Ich hatte die Kreuzworträtsel gelöst, die blöden Fragebögen beantwortet ( » Welche Kleidung gehört ins Katastrophengepäck? A. ein Badeanzug– B. mehrere Schichten– C. ein Bastrock– D. Alufolie « ) und– zusammen mit meiner Mutter– einen Familienkatastrophenplan entwickelt. Unserer war ganz einfach: Wir würden uns zu Hause treffen. Und wenn einer von uns nicht nach Hause kommen könnte, würde er anrufen. Aber die Zeit kroch dahin, das Telefon klingelte nicht, und die Zahl der Todesopfer in den Nachrichten stieg von 22 auf 25. Ich wählte noch einmal die Notrufnummer der Stadt.
    » Ja « , sagte die Frau, die sich meldete, mit einer aufreizend ruhigen Stimme. » Ich sehe hier, dass Sie schon einmal angerufen haben. Wir haben das notiert. «
    » Aber– vielleicht ist sie im Krankenhaus oder so was? «
    » Könnte sein. Aber ich kann es leider nicht bestätigen. Wie war

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