Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
sei, dass man keine Fachleute ins Museum ließ, die sich um die Kunstwerke kümmern könnten. » Ja « , sagte er, » ich verstehe, dass es sich um einen Tatort handelt, aber diese Bilder sind sehr empfindlich gegen jede Veränderung von Luft und Umgebungstemperatur. Sie können beschädigt sein, durch Wasser, Chemikalien oder Rauch, und der Zustand kann sich in diesem Augenblick weiter verschlimmern. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Konservatoren und Kuratoren Zugang zu den betroffenen Bereichen erhalten, um den Schaden so schnell wie möglich zu taxieren… «
    Ganz plötzlich klingelte das Telefon– unnatürlich laut, wie ein Wecker, der mich aus dem schlimmsten Albtraum meines Lebens riss. Meine Erleichterung war unbeschreiblich. Ich stolperte und wäre beinahe auf das Gesicht gefallen, als ich nach dem Apparat hechtete. Ich war sicher, dass es meine Mutter war, aber als ich auf das Display schaute, erstarrte ich: NYD o CFS .
    New York Department für– was? Einen halben Herzschlag lang starrte ich verwirrt auf das Telefon. Dann raffte ich es an mich. » Hallo? «
    » Hallo « , sagte eine Stimme, gedämpft und beinahe unheimlich sanft. » Mit wem spreche ich? «
    » Theodore Decker « , sagte ich verblüfft. » Wer ist denn da? «
    » Hallo, Theodore. Mein Name ist Marjorie Beth Weinberg, und ich bin Sozialarbeiterin beim Department of Child and Family Services. «
    Der Kinder- und Familiendienst? » Was ist los? Rufen Sie wegen meiner Mutter an? «
    » Du bist Audrey Deckers Sohn? Ist das richtig? «
    » Meine Mutter! Wo ist sie? Geht es ihr gut? «
    Eine lange Pause– eine schreckliche Pause.
    » Was ist los? « , rief ich. » Wo ist sie? «
    » Ist dein Vater da? Kann ich ihn sprechen? «
    » Er kann nicht ans Telefon kommen. Was ist los? «
    » Es tut mir leid, aber es handelt sich um einen Notfall. Es ist sehr wichtig, dass ich jetzt mit deinem Vater spreche. Sofort. «
    » Was ist mit meiner Mutter? « Ich stand auf. » Bitte! Sagen Sie mir nur, wo sie ist! Was ist passiert? «
    » Du bist doch nicht allein, oder, Theodore? Ist da ein Erwachsener bei dir? «
    » Nein, die sind Kaffee trinken gegangen. « Wie wild schaute ich mich im Wohnzimmer um. Ballerinas, schräg unter einem Sessel. Violette Hyazinthen in einem mit Folie umwickelten Blumentopf.
    » Dein Vater auch? «
    » Nein, der schläft. Wo ist meine Mutter? Ist sie verletzt? Was ist passiert? «
    » Es tut mir leid, aber ich muss dich bitten, deinen Vater zu wecken, Theodore. «
    » Nein! Das kann ich nicht! «
    » Ich fürchte, es ist wichtig. «
    » Er kann nicht ans Telefon kommen! Warum sagen Sie mir nicht einfach, was los ist? «
    » Tja, wenn dein Dad nicht zur Verfügung steht, sage ich dir vielleicht am besten, wie er mich erreichen kann. « Die Stimme klang zwar sanft und mitfühlend, aber sie erinnerte mich an den Computer HAL in 2001: Odyssee im Weltraum. » Bitte sag ihm, er soll sich so schnell wie möglich bei mir melden. Es ist wirklich sehr wichtig, dass er mich zurückruft. «
    Als ich aufgelegt hatte, saß ich lange Zeit ganz still da. Die Uhr am Herd, die ich vom Sofa aus sehen konnte, zeigte 2:45. Noch nie war ich um diese Zeit allein und wach gewesen. Das Wohnzimmer, sonst so luftig und offen und beschwingt von der Anwesenheit meiner Mutter, schrumpfte zu kaltem, fahlem Unbehagen zusammen, wie ein Ferienhaus im Winter: dünne Stoffe, ein rauer Sisalteppich, Papierlampenschirme aus Chinatown und die Sessel zu klein und zu leicht. Die Möbel sahen spindeldünn aus, als balancierten sie nervös auf den Zehenspitzen. Ich fühlte meinen Herzschlag, hörte das Klicken und Ticken und Zischen des großen, betagten Gebäudes, das um mich herum schlummerte. Alles schlief. Sogar das ferne Hupen und das gelegentliche Rumpeln von Lastwagen drüben in der 57th Street klangen matt und ungewiss wie Geräusche von einem anderen Planeten.
    Bald, das wusste ich, würde sich der Nachthimmel dunkelblau färben, und der erste zarte, frostige Schimmer des Tageslichts im Monat April würde sich ins Zimmer stehlen. Müllautos würden dröhnend die Straße entlangpoltern, im Park würden die Singvögel des Frühlings anfangen zu zwitschern, und in Schlafzimmern überall in der Stadt würden die Wecker losgehen. Männer, die am Heck vom Lastwagen hingen, würden dicke Zeitungspacken, Times und Daily News, klatschend auf den Gehweg neben dem Zeitungsstand werfen. In der ganzen Stadt würden Mütter und Väter mit wirrem Haar in Unterwäsche

Weitere Kostenlose Bücher