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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Poel.
    Ich stand auf, knipste die Schreibtischlampe an, stand schwankend im matten, urinfarbenen Licht. Es gab Warten. Es gab Weglaufen. Aber dabei ging es nicht so sehr um eine Wahl als vielmehr um das Maß des Ertragens: Das sinnlos abwechselnde Umherhuschen und Erstarren einer Maus im Terrarium der Schlange diente nur dazu, Qual und Spannung zu verlängern. Und es gab noch eine dritte Möglichkeit: Aus verschiedenen Gründen nahm ich an, ein Konsulatsmitarbeiter würde mich ziemlich schnell zurückrufen, wenn ich nach Dienstschluss die Nachricht hinterließ, ich sei ein amerikanischer Staatsbürger, der die Absicht habe, sich wegen Mordes der Polizei zu stellen.
    Ein Akt der Rebellion. Das Leben: leer, eitel, unerträglich. Was war ich ihm schuldig? Nichts. Warum dem Schicksal nicht zuvorkommen? Das Buch ins Feuer werfen und aus? Ein Ende des gegenwärtigen Grauens war nicht in Sicht– jede Menge externes, empirisches Grauen, das sich mit meiner eigenen, endogenen Versorgung mischte, und wenn genug Stoff da wäre (ein Blick in den Umschlag: weniger als die Hälfte noch übrig), würde ich mit Vergnügen eine fette Line reinziehen und aus den Schuhen kippen: Dunkelheit mit weiter Seele, Sternenexplosion.
    Aber es war nicht so viel da, dass ich sicher sein konnte, es würde reichen, um mich zu erledigen. Und das, was ich hatte, wollte ich nicht für ein paar Stunden des Vergessens verschwenden, nur um dann wieder in meinem Käfig aufzuwachen (oder, schlimmer noch, ohne Pass in einem holländischen Krankenhaus). Andererseits war meine Toleranzschwelle stark gesenkt, und ich war ziemlich sicher, dass ich genug hatte, um die Sache zu erledigen, wenn ich mich vorher ordentlich betrank und die Notfalltablette obendrauf legte.
    Eine kalte Flasche Weißwein in der Minibar. Warum nicht. Ich trank den Rest Gin und machte sie auf, und ich empfand Entschlossenheit und Triumph– ich hatte Hunger, sie hatten auch Cracker und Cocktail-Snacks nachgeliefert, aber auf leeren Magen würde das alles viel besser funktionieren.
    Die Erleichterung war unermesslich. Ein stiller Abschied. Das vollkommene, vollkommene Glück, alles wegzuwerfen. Ich fand einen Klassiksender im Radio– Weihnachtschoräle, nüchtern und liturgisch, weniger Melodie als vielmehr spektraler Kommentar dazu– und überlegte, ob ich mir ein Bad einlassen sollte.
    Aber das hatte noch Zeit. Ich öffnete die Schreibtischschublade und fand eine Mappe mit Hotelbriefpapier. Graue Kathedralmauern, Moll-Hexachorde. Rex virginum amator. Zwischen dem Fieber und dem Wasser der Gracht, das draußen plätscherte, war der Raum um mich herum still in eine spukhafte Doppelung gefallen, in eine Grenzzone, die sowohl Hotelzimmer als auch die Kajüte auf einem sanft stampfenden Schiff war. Leben auf hoher See. Tod durch Wasser. Andy hatte mir, als wir klein waren, mit der unheimlichen Stimme eines Jungen vom Mars erzählt, er hätte im Schulfunk gehört, der Mars beschütze die Seeleute, und eine der Schutzwirkungen des Rosenkranzes wäre die, dass man niemals ertrinken könnte. Mary Stella Maris. Maria Meerstern.
    Ich dachte an Hobie in der Mitternachtsmette, wie er in seinem schwarzen Anzug in der Bank kniete. Vergoldung nutzt sich auf natürliche Weise ab. An einer Schranktür oder an der Klappe eines Sekretärs findet sich oft eine Reihe von winzigen Einkerbungen.
    Objekte auf der Suche nach ihren rechtmäßigen Eigentümern. Sie hatten menschliche Eigenschaften. Sie waren verschlagen oder ehrlich oder misstrauisch oder edel.
    Wirklich bemerkenswerte Stücke erscheinen nicht aus dem Nichts auf der Szene.
    Der Hotelstift war nicht toll, und ich hätte gern einen besseren gehabt, aber das Hotelpapier war cremeweiß und dick. Vier Briefe. Die beiden für Hobie und Mrs. Barbour würden die längsten sein müssen, denn sie waren diejenigen, die eine Erklärung am meisten verdienten, und auch die Einzigen, denen es wirklich etwas ausmachen würde, wenn ich tot wäre. Aber an Kitsey würde ich auch schreiben– um ihr zu versichern, dass sie keine Schuld hatte. Der Brief an Pippa würde der kürzeste werden. Sie sollte nur wissen, wie sehr ich sie liebte und dass sie keine Spur von Schuld trug, weil sie mich nicht zurückliebte.
    Aber das würde ich nicht sagen. Rosenblütenblätter wollte ich ihr zuwerfen, keine Giftpfeile. Es ging nur darum, sie ganz kurz wissen zu lassen, wie glücklich sie mich gemacht hatte, und das Offenkundige einfach wegzulassen.
    Als ich die Augen schloss,

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